Nikolaus Nützel: Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg

Da sich der Beginn des Ersten Weltkrieges in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt, ist er derzeit allgegenwärtig. Viele Bücher sind erschienen, in der Presse wurde das Thema vielfach aufgegriffen, Dokumentationen und Filme liefen im Fernsehen. Ich selber habe als Jugendliche „… da gibt’s ein Wiedersehen“ von Jo Mihaly gelesen, das Kriegstagebuch eines Mädchens, das leider nur noch antiquarisch erhältlich ist. Ich fragte mich, ob es auch aktuelle Bücher gibt, die dieses schwierige Kapitel der Geschichte für Kinder verständlich aufbereiten. Dabei stieß ich auf „Mein Opa, sein Holzbein und der große Krieg. Was der Erste Weltkrieg mit uns zu tun hat“, das mir der Verlag arsEdition netterweise als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Das Buch beginnt mit einer etwas skurrilen Anekdote. Jedes Jahr am 24. August feiert die Familie des Autors den Tag, an dem sein Großvater 1914 sein Bein verlor. Wie kann man so etwas nur feiern?

Davon ausgehend erklärt Nützel viele Aspekte dieses Krieges. Er listet nicht einfach den Verlauf des Krieges mit den diversen Bündnissen und Schlachten auf, sondern er greift einzelne Ereignisse heraus, anhand derer er gut erklären kann, was passierte. Beispielweise berichtet er ausgehend von der Versenkung der Lusitania vom U-Boot-Krieg oder von Manfred von Richthofen über den Luftkrieg. Er erklärt, warum so viele junge Leute begeistert in den Krieg zogen, welche Waffen eingesetzt wurden, macht die enormen Zahlen der Toten deutlich und stellt immer wieder die Verbindung zum Zweiten Weltkrieg her. Ja, er bezeichnet beide Kriege zusammen als zweiten Dreißigjährigen Krieg.

Obwohl er sehr viele Fakten präsentiert, geht es ihm nicht um die reine Darstellung von dieser überall nachlesbaren Daten, sondern er versucht deutlich zu machen, wie die Menschen fühlten und dachten. Nur das macht es dem Leser möglich zu verstehen, was überhaupt passiert ist. Heute fragt man sich ja kopfschüttelnd, wie es sein konnte, dass alle so begeistert in den Krieg zogen und wie sie annehmen konnten, in wenigen Wochen wäre alles vorbei. Nützel erklärt erst einmal, wie die Welt in der Provinz aussah, in der sein Großvater lebte. Es gab kein Internet, kein Fernsehen, kein Radio. Es gab lediglich Zeitungen, die der Zensur unterlagen und den Lesern immer wieder von den angeblichen Schandtaten der Nachbarländer berichteten, den Kaiser und seine Generäle lobten und die Notwendigkeite eines Krieges betonten. Kaum jemand kannte mehr von der Welt als einen Umkreis von vielleicht 100 Kilometern um seinen Wohnort. Etwas, was sich wir Erwachsenen kaum vorstellen können, unsere in der vernetzten Internetwelt groß gewordenen Kinder aber noch viel weniger. Der Versuch, sich in solch eine enge Welt hineinzuversetzen, macht ihnen aber verständlich, warum die meisten jungen Soldaten so wenig hinterfragten und sich in diesen Krieg hineinschicken ließen, warum die Familienangehörigen zwar um Tote trauerten, sie aber auch für Helden hielten, die dem Vaterland einen notwendigen Dienst geleistet hatten. Dieses und andere Kapitel und Passagen, in denen der Autor versucht, die Gefühle und Gedanken der Menschen Anfang des letzten Jahrhunderts zu erklären, fand ich am Eindrücklichsten.

Sehr gut gefallen hat mir auch, dass Nützel auch Themen anspricht, die zumindest in meiner Schulzeit im Geschichtsunterricht zu kurz kamen. Ich kann mich wohl daran erinnern, dass ich gelernt habe, dass die Türkei ein Bündnispartner Deutschlands war. Dass aber in der Türkei selbst Kämpfe stattgefunden haben, war mir früher nicht bewusst. Ziemlich sicher bin ich mir aber, dass der Völkermord an den Armeniern damals nicht erwähnt wurde.

Der Autor scheut sich auch nicht, ausführlich auf die Grausamkeiten einzugehen. Er denkt über das Ende des Menschseins nach, die Abstumpfung, die die meist jungen Soldaten wahrscheinlich erlebt haben. Er beschreibt Art und Wirkung der Waffen und erklärt, wer mit dem Krieg ein Geschäft gemacht hat. Sehr wichtig finde ich, dass er immer wieder darauf hinweist, was die Folgen bestimmter Ereignisse waren und wie und weshalb sie zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges beitrugen. Er schönt nicht, bringt die Verstrickungen seiner Familie ebenso auf den Tisch wie die Namen derjenigen, die durch den Krieg reich wurden.

Immer wieder kommt er auf seine eigene Familiengeschichte zurück, zeigt Tagebucheintragungen seiner Großmutter oder berichtet Erinnerungen seiner Mutter. Dieser kleinere Rahmen macht vieles leichter verständlich, greifbarer. Am Ende schließt er den Kreis, indem er den Bericht vom Anfang aufgreift und erklärt, warum seine Familie noch heute den 24. August feiert: Ohne die Verletzung gleich zu Anfang des Krieges hätte sein Großvater wahrscheinlich nicht überlebt, seine Kinder und Enkel wären nie geboren worden, die Familie würde nicht existieren.

Ich finde das Buch sehr gut gelungen und gut dafür geeignet, älteren Kindern (ab etwa 12 Jahren) und Jugendlichen den Ersten Weltkrieg näherzubringen. Es nennt zwar Zahlen, Fakten, Daten, verknüpft diese aber so geschickt mit Anekdoten, Hintergrundberichten, Analysen und Ausblicken, dass der Leser sie verarbeiten und verkraften kann. Auch die vielen Originaldokumente und Fotos tragen dazu bei, sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild zu machen.

Der Anhang enthält eine Zeittafel, mehrere Landkarten, Begriffserklärungen und Hinweise auf eine weitergehende Beschäftigung mit dem Thema: Filme, Bücher, Comics, CDs, Internetquellen und Gedenk- bzw. Erinnerungsstätten. Den Comic und eins der Hörbücher habe ich umgehend auf meine Wunschliste gesetzt.

Lange war das Buch im Zimmer meines 14-jährigen geschichtsinteressierten Sohn verschwunden. Es war aber nicht in irgendeinem Regal gelandet, sondern wurde von ihm immer wieder in die Hand genommen. Er fand es sehr interssant und meinte, dass es über das Wenige, was im Geschichtsunterricht durchgenommen wurde, hinausgeht. Ich finde es aber auch für Erwachsene, die nicht tief in der Materie stecken, durchaus empfehlenswert. Es war für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2014 in der Sparte Sachbuch nominiert.

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Nikolaus Nützel: Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg. Was der Erste Weltkrieg mit uns zu tun hat. ArsEdition 2013. 144 Seiten, Euro 14,99, ISBN 978-3845801728.

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