Judith Burger: Gertrude grenzenlos

Die Geschichte einer riskanten Freundschaft

Als Gertude neu in Inas Klasse kommt, wird sie neben Ina gesetzt, die gerade zur Strafe fürs Zuspätkommen und Herumdiskutieren in die letzte Reihe umziehen musste. Gertrude kommt Ina merkwürdig vor: Nie sagt sie etwas – und dann dieser Name! Sie bleibt aber hartnäckig und erfährt in der nächsten Zeit einiges über Gertrude: dass sie nach der Dichterin Gertude Stein benannt wurde. Dass ihre Familie einen Ausreiseantrag gestellt hat. Dass ihr Vater, ein Dichter, seine Werke nicht mehr veröffentlichen darf. Dass die Erwachsenen nicht wollen, dass sie Kontakt zu solch einem Mädchen hat …

Ina freundet sich gegen alle Widerstände mit Gertude an, die die beste Freundin ist, die sie jemals hatte. Sie lernt eine Familie mit völlig anderer Lebensweise kennen und erfährt viel darüber, wie in ihrem Land, der DDR, mit Menschen umgegangen wird, die eine andere Meinung haben.

„So, Ina, offensichtlich hast du nicht begriffen, wofür wir uns hier versammeln. Meinst du nicht, dass es einen Grund dafür gibt?“
„Ja“, sage ich.
„Es würde dir nicht schaden, dich ein wenig mehr ins Kollektiv einzubringen.“
Autsch, jetzt kommt das ganz große Besteck. Da hilft nur vorpreschen und ich platze heraus:
„Ich war gerade dabei, mir etwas zu überlegen, Frau Wendler.“
Frau Wendlers Augen werden sehr schmal.
„Überlegen kannst du zu Hause. Hier kommt es auf Taten an.“
Autsch!
„Als Pionier bist du ein Vorbild, also benimm dich auch so!“

Zwei ungewöhnliche Mädchen

Anfangs fasziniert es Ina vor allen, dass Gertrude Westklamotten trägt und solch einen altmodischen Namen trägt. Doch je näher sie sie kennenlernt, desto mehr merkt sie, dass das einfach eine richtig tolle Freundin ist. Deswegen ist Ina nicht bereit, die Freundschaft aufzugeben – egal was ihre Mutter, die Lehrerin oder die blöde Verkäuferin aus dem Konsum sagen oder denken. Sie wächst über sich heraus und ist sehr mutig. Das hängt zunächst auch damit zusammen, dass sie sich der Risiken nicht bewusst ist. Doch als sie Getrude erst einmal genug ins Herz geschlossen hat, ist sie auch bereit, negative Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Wie es sein kann, dass ein elfjähriges Mädchen eine Staatsfeindin sein soll, will ihr einfach nicht in den Kopf. Dass sie mit ihrer Aufmüpfigkeit Gertrude und ihrer Familie sogar schaden kann, muss sie erst einmal lernen.

Ina ist ein toller Charakter. Aufmüpfig, mutig, eine wunderbare Freundin, wie sie sich jeder wünschen würde. Für sie ist der Gedanke, dass ihre Freundschaft jederzeit enden kann, sobald Gertrudes Familie ausreisen darf, schrecklich. Sie will Gertrude behalten. Andererseits gönnt sie es der Familie aber auch, auszureisen. Dann kann Gertrude ihren geliebten Onkel wiedersehen, ihr Vater veröffentlichen, ihre Geschwister studieren, die Familie kann leben, wie es ihr gefällt. Das ist ein großer Konflikt für Ina.

Bei einem Abschied ist alles anders. Es ist ein Ende. So sauer und enttäuscht ich bin, das Schlimmste ist doch, dass Gertrude geht. Und dass sie gar nichts dafür kann. Sicher, ihre Familie reist freiwillig aus, aber es handelt sich ja auch um eine Flucht, und jemand, der flüchtet, geht nicht wirklich freiwillig. Denn er kann da, wo er eigentlich sein sollte, nicht bleiben, weil er dort nicht leben kann, wie es am besten für ihn ist.

Gertrude fällt auf. Auf den ersten Blick, weil sie Westklamotten trägt. Auf den zweiten Blick, weil sie eine ganz andere Sozialisation erfahren hat. Ihre Familie ist in der Kirche, sie gehört nicht zu den Pionieren, sie kennt wundervolle Gedichte, sie hat viele Geschwister, vor allem hat sie aber schon erleben müssen, wie es ist, schikaniert zu werden. Sie musste die Schule wechseln, aber auch die neue Lehrerin lässt sie spüren, dass sie nicht dazugehört. So muss sie zum Beispiel die Schöpfungsgeschichte erzählen, wofür sie von der ganzen Klasse ausgelacht wird. Gertrude hat gelernt, dass es besser ist, nicht aufzufallen. Deswegen ist sie ein stilles Mädchen, das aber in Inas Gesellschaft auflebt.

Freundschaft auf Abruf

Zum einen ist dies die Geschichte einer ganz besonderen Freundschaft. Zwei Mädchen gehen füreinander durch dick und dünn. Zum anderen ist es aber eine Geschichte über die DDR. Die jungen Leserinnen und Leser kennen die DDR nur noch vom Hörensagen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie es war, wie es sich anfühlte, in diesem Land zu leben. Die Sechstklässlerinnen Ina und Gertrud sind ganz normale Schülerinnen wie sie auch. Aber dennoch unterliegen beide vielen Einschränkungen. Ina geht zu den Pioniernachmittagen, obwohl sie sie langweilig findet. Als sie denkt, Gertude zu helfen, wenn diese sich „ins Kollektiv eingliedert“, sammelt sie mit ihr Altpapier, bis ihre tolle Leistung auf der Wandzeitung eingetragen wird. Um Gertrude zu verteidigen, bringt sie all die Parolen und Sprüche vor, mit denen sie aufgewachsen ist. Durch die Reaktionen der Erwachsenen lernt sie viel Neues über ihr Land, was für sie bisher nicht wichtig war. Inas Erlebnisse und Berichte lassen ein Bild vom Leben in der DDR entstehen, das heutigen Kindern verständlich macht, wie es gewesen sein muss, dort aufzuwachsen und wie viel freier ihr Leben doch ist.

Natürlich kommen einige Begriffe vor, die den Kindern nicht geläufig sind. Sie erklären sich selbst durch die Handlung oder werden ganz nebenbei von einem der Handelnden erklärt. Pioniernachmittage, Timur und sein Trupp, Wandzeitung, Konsum, aber auch Stasi oder Ausreiseantrag. Zusätzlich gibt es aber am Schluss noch ein Glossar, in dem solche Begriffe noch einmal nachgeschlagen werden können.

Die Geschichte ist aus Inas Sicht geschrieben. Der Schreibstil ist flott, mit viel wörtlicher Rede, aber auch Erklärungen aus Inas kindlicher Perspektive. Das lässt sich sehr gut lesen. Die Erlebnisse der Mädchen sind sehr fesselnd erzählt. Das Ende brachte mich zum Weinen, aber ich bin sehr nah am Wasser gebaut, was Abschiede angeht. Das ist ein wunderbares Kinderbuch, das ein schwieriges Thema auf fesselnde Weise verständlich macht.

Fazit: Die Geschichte einer Freundschaft in der DDR, in der fesselnd, authentisch und für Kinder gut verständlich gezeigt wird, was es bedeutete, in der DDR aufzuwachsen. Eine absolute Leseempfehlung für Kinder von 10 bis 12 Jahren.

Judith Burger: Gertrude grenzenlos. Gerstenberg 2018. 240 Seiten, Euro 12,95, ISBN 978-3-8369-5957-5.

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