Doris Linke: Jenseits der blauen Grenze

Rostock, im August 1989. Hanna und Andreas halten es nicht mehr länger in der DDR aus. Immer wieder sind sie angeeckt. Alles fing recht harmlos an, mit Gekichere während der Schweigeminute für Breschnew, wegen dem sie zum Schulleiter mussten. Schließlich flog Hanna von der Schule und darf nun kein Abitur machen, Andreas war sogar ein halbes Jahr lang in einem Jugendwerkhof. Sein Traum vom Informatikstudium ist damit auch geplatzt. Beide müssen in einer Fabrik arbeiten und sehen keinerlei Perspektive. Deswegen kommt Andreas auf die Idee, über die Ostsee zu fliehen. Die beiden wollen nach Fehmarn schwimmen. Hanna ist ohnehin Schwimmerin, Andreas trainiert auch und schließlich machen sich die beiden auf den Weg. Werden sie es in den Westen schaffen?

Immer abwechselnd wird der Fluchtversuch aus Hannas Sicht geschildert, dann wieder blickt sie während des Schwimmens auf eine Episode aus ihrem Leben zurück. So wird nach und nach erklärt, wieso die beiden diesen riskanten Schritt gewagt haben.

Wie verzweifelt muss man sein, um solch eine riskante Flucht zu wagen?

Hanna, Andreas und ihr Freund Sachsen-Jensi sind ganz normale Schüler, die zunächst versuchen, mit dem Schulsystem in der DDR irgendwie klarzukommen. Aber sie haben eine große Klappe, Andreas ist auch aufbrausend, und für die Lehrer hängen die beiden anderen sowieso immer mit drin, wenn einer von ihnen etwas anstellt. So bekommen sie immer öfter Ärger. Trotzdem darf Hanna auf die Penne, die Oberschule, um Abitur zu machen. Doch dann passiert etwas, wofür die Jugendlichen gar nichts können, was ihnen aber alles verbaut. Die Autorin ist in der DDR aufgewachsen und schildert die Erlebnisse und Gefühle der Jugendlichen glaubwürdig. Ihr gelingt es gut, den Lesern ein Gefühl für das Leben (dieser) jungen Menschen in der DDR zu vermitteln. Typische Alltagserlebnisse und einige besondere Erlebnisse wie die Jugendweihe oder der Schulabschluss vermitteln ein realistisches Bild. Es wird aber auch deutlich, wie gefährlich es war, auf typisch jugendliche Art zu rebellieren. Ein flotter Spruch, wie ihn heutige Jugendliche oft auf den Lippen haben, konnte damals die Zukunft verbauen. Für Hanna und Andreas ist die Aussicht darauf, ihr restliches Leben lang in der Fabrik zu arbeiten und jedes Wort abwägen zu müssen, so schrecklich, dass sie das Risiko eingehen wollen.

Dieses Buch hat den Deutschen Jugendliteraturpreis 2015 gewonnen – absolut zurecht, wie ich finde. Die Protagonisten und ihr Leben sind glaubwürdig und überzeugend geschildert, die dramatische Flucht ist äußerst spannend. Man meint vielleicht, es könne nicht viel passieren, wenn zwei Personen Stunden um Stunden schwimmen. Ich verspreche, das ist keineswegs so, sondern die Erlebnisse der beiden ließen mich mehr als einmal die Luft anhalten. Auch stilistisch ist dies sehr gut gelöst, ich war beeindruckt, wie gut die Autorin Hannas geistige Verfassung und deren Entwicklung während des Schwimmens vermittelt.

Während des Lesens hatte ich ständig die geschichtliche Entwicklung im Hinterkopf – es war nicht mehr lange bis zur Grenzöffnung, all die Quälerei war völlig unnötig, sie hätten nur etwas länger aushalten müssen. Aber das konnte ja niemand wissen und tatsächlich hat es ja auch früher solche Fluchten oder Fluchtversuche gegeben.

Lustige Passagen wechseln mit spannenden, traurigen und tragischen – ein sehr eindringliches, berührendes, nie langweiliges und absolut empfehlenswertes Buch. So kann man Jugendlichen ab 15 Jahren deutlich machen, was es bedeutete, in der DDR aufzuwachsen und was es braucht, dass ein Mensch sich in Lebensgefahr begibt, um ein besseres Leben führen zu können. Aber auch Erwachsenen möchte ich dieses Buch uneingeschränkt ans Herz legen.

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Doris Linke: Jenseits der blaue Grenze. Magellan 2014. 304 Seiten, Euro 16,95, ISBN 978-3-7348-5602-0

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Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.