An Omas Wand hängen viele alte Bilder, darunter auch das eines Jungens, der einmal der Urgroßvater der Erzählerin werden wird. Seine Geschichte fasziniert sie und eines Tages lässt sie die Großmutter in einem alten Notizbuch blättern. Wilhelm, so heißt der Junge auf dem Bild, konnte nämlich gut malen, und so hat er während seiner Auswanderung nach Amerika viele Bilder gezeichnet …
Anna erfährt, dass Wilhelms Kindheit arm und entbehrungsreich war und er auch nach seiner Ausbildung keine Stelle gefunden hat. Als dann ein Amerikawerber ins Dorf kam, überredete er seinen Vater, seiner Auswanderung zuzustimmen. Zu Fuß und mit der Bahn gelangte er nach Bremerhaven, von wo er 1872 mit dem Segelschiff Colombia in See stach. Dort musste er nun mit vollkommen fremden Menschen etwa sechs Wochen auf engstem Raum zusammenleben. Er beschreibt die Verhältnisse auf dem Schiff, die unhygienischen Zustände, die Seekrankheit, die Ernährung, aber auch die schönen Momente der wochenlangen Reise und das Prozedere nach der Ankunft auf Ellis Island. Auch typische Spiele, mit denen die Kinder sich die Zeit vertrieben, und nautische Instrumente werden gezeigt. In Kästen erhält der Leser weitergehende Informationen, zum Beispiel: Warum verließen die Menschen ihre Heimat? Was passierte, wenn während der Überfahrt jemand krank wurde? Welcher Proviant war mit an Bord? Wie wurde das untere Deck belüftet? Wie Seile hergestellt?
Das Buch ist äußerst informativ und so spannend geschrieben, dass die jungen Leser unbedingt erfahren wollen, wie es mit Wilhelm weitergeht. Ältere Kinder können es sicher auch selber lesen, aber vielleicht ist es besser, die Geschichte vorzulesen, denn die „Handschrift“, die die Zeichnungen ergänzt, orientiert sich ein wenig an altdeutscher Schrift und ist für die Kinder nicht ganz einfach zu entziffern, sie macht aber nur einen sehr kleinen Teil des Textes aus. Außerdem macht es Spaß, gemeinsam die Bilder anzuschauen und zu kommentieren. Die meisten Zeichnungen sind Bleistiftzeichnungen, teilweise leicht coloriert, sodass man wirklich den Eindruck bekommt, das Skizzenbuch des jungen Mannes durchzublättern. Sehr hübsch gemacht!
Den Kindern wird bei der Lektüre sicherlich bewusst, dass das Auswandern ein schwerer Schritt war. Entfernungen hatten in dieser Zeit eine ganz andere Bedeutung (zwei Wochen vom Spessart bis nach Bremerhaven, sechs weitere Wochen bis nach Amerika). Mal eben in den Flieger und bei der Verwandtschaft Urlaub machen, das war nicht möglich, sondern eine Auswanderung konnte bedeuten, seine Familie niemals wiederzusehen. Auch das das in Amerika erwartete Glück und die Reichtümer waren keineswegs selbstverständlich.
Im Anhang ergänzt eine Chronologie der deutschen Auswanderung nach Amerika das Erzählte, sowie Tipps für Bücher und Museen. Das dort empfohlene Museum „Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven“ haben wir mit den Kindern besucht und uns stundenlang darin aufgehalten. Es war für Groß und Klein interessant und informativ. Dieser Empfehlung kann ich mich nur anschließen!
Ein tolles Buch für (Familien-)Historiker und Fernwehkranke ab 8 Jahren.
Anke Bär: Wilhelms Reise. Eine Auswanderergeschichte. Gerstenberg 2012, 64 Seiten, Euro 14,95, ISBN 978-3-8369-5409-9