Niederrhoden ist ein abgeschiedener Ort mit einer sehr alten Tradition: Weil im Dreißigjährigen Krieg einmal ein Junge mit einem Kaninchen das Dorf gerettet hat, findet einmal im Jahr ein großes Kaninchenrennen statt. Alle Zehnjährigen bekommen ein Kaninchen, das sie trainieren und mit dem sie beim Rennen antreten müssen. Dieses Rennen wird von allen unglaublich wichtig genommen. Tim verliert deswegen sogar seine beiden Freunde.
Tim trainiert sehr hart, dafür wird er von seinem Opa sogar schon um vier Uhr morgens aus dem Bett geholt. Denn Tim soll nicht nur für sich laufen, sondern auch die Familienehre wiederherstellen. Tims Vater ist damals nicht angetreten – weshalb, das findet Tim erst viel später heraus. Er wurde damals gehänselt, der Spitzname ging auf Tim über. Als Tim dann bei der Kaninchenwahl ein dreibeiniges Kaninchen bekommt, scheint alles vorbei zu sein. Doch Tim, der in Lizzy und Pascal neue Freunde gefunden hat, gibt nicht auf, obwohl er noch mehr Hindernisse überwinden muss.
Die Grundidee mag nicht neu sein: Ein wichtiges Rennen oder bedeutendes Spiel findet statt, das unbedingt gewonnen werden muss. Aber die Idee mit dem Kaninchenrennen, den alten Traditionen und Regeln ist wunderbar originell. Die Hauptpersonen Tim, Pascal und Lissy sind sehr realistisch dargestellt. Zwar sind sie sympathisch, man drückt ihnen die Daumen und fiebert mit ihnen mit. Aber sie sind doch ganz normale Kinder, die manchmal blöde Sachen sagen oder unüberlegt Dinge tun, die sie lieber gelassen hätte. Das finde ich angenehmer als Superhelden, bei denen alles aufgrund magischer Fähigkeiten klappt. Sie erleben Fortschritte und Rückschritte, machen Fehler und tolle Sachen wie jeder der Leserinnen und Leser auch.
Tim hat viel auszuhalten. Er wird gehänselt, der Name seines Vaters in den Dreck gezogen, sein Kaninchen wird beleidigt, seine Freunde ziehen sich von ihm zurück, er wird ausgelacht und sogar misshandelt. Und doch gibt er nie auf. Er schließt sich mit zwei weiteren Außenseitern zusammen und findet in ihnen Freunde. Er setzt sich für Lissys größten Wunsch ein. Er überwindet seine Ängste und spricht jemanden an, von dem er hofft, dass er ihm helfen kann.
Auch die Erwachsenen in der Geschichte handeln nicht immer vorbildlich. Tims Opa will durch seinen Enkel die Familienehre retten und nimmt ihm das dreibeinige Kaninchen sehr übel. Pascals Mutter erlaubt ihrem Sohn aus fadenscheinigen Gründen nicht, das Haustier zu behalten. Dem Klassenlehrer ist es nur wichtig, dass ein Schüler aus seiner Klasse siegt. Der Bürgermeister, dessen Sohn ebenfalls antritt, und der Hasenhüter sind parteiisch. Nur seine Oma hält immer zu Tim. Und die anderen Kinder halten zum dem mit der größten Klappe, von dem sie Prügel befürchten müssen, falls sie es nicht tun.
Die Geschichte braucht ein wenig, um in die Gänge zu kommen, doch im Laufe der Zeit wird sie sehr spannend. Sehr oft habe ich mich über einzelne Protagonisten aufgeregt und über diese merkwürdigen, altmodischen Regeln. Aber gerade das brachte mich dazu, immer fester zu Tim, Pascal und Lissy zu halten und mit ihnen mitzufiebern. Was mir aber sehr gut gefallen hat, ist, mit welcher Leichtigkeit wichtige Themen verarbeitet wurden, ohne auch nur eine Minute nach erhobenem Zeigefinger zu klingen. So dürfen Mädchen erst seit 50 Jahren mitmachen, erhalten aber nur ein Zwergkaninchen, mit dem sie keinerlei Chance auf den Sieg haben. Die Begründung: Es geht es um die Gemeinschaft und das Dabeisein, der Sieg ist zweitrangig. Dass das nicht stimmt, wird bei der Lektüre mehr als deutlich. Als Lissy antritt, wenigstens einen Jungen zu besiegen, sind ihr die Sympathien der Leser sicher. Das zweite wichtige Thema ist der Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Zwar taucht niemand mit einer Behinderung in der Geschichte auf, sondern nur ein dreibeiniges Kaninchen, aber die Kommentare und der Umgang damit lassen sich leicht übertragen.
Das Buch enthält keine großen Bilder, nur gelegentlich Vignetten über den Kapitelüberschriften. Aber ein Gestaltungsdetail finde ich grandios: Die rechte untere Ecke enthält ein Daumenkino, mit dem man sein eigenes Kaninchenrennen mit Blackbeard durchführen kann.
In erster Linie ist Das Kaninchenrennen eine Geschichte über das Siegen und Verlieren, aber letztlich über noch viel mehr: Freundschaft, Tierliebe, Gleichberechtigung, der Umgang mit Behinderungen, dies alles spielt eine wichtige Rolle. Und weil es überdies sehr unterhaltsam geschrieben und spannend ist, ist es eine tolle Lektüre für Kinder ab 10 Jahren.
Boris Koch: Das Kaninchenrennen. heyne fliegt 2015. 336 Seiten, Euro 12,99, ISBN 978-3-453-26940-8.
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Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.