Natasha Friend: N° 9677 oder Wie mein Vater an fünf Kinder von sechs Frauen kam

Natasha Friend: N° 9677 oder Wie mein Vater an fünf Kinder von sechs Frauen kam

Wenn der Vater ein Samenspender war

Hollis ist mit zwei Müttern aufgewachsen, zumindest bis eine davon gestorben ist und ihre andere Mutter in tiefer Trauer versank. Dass ihr Vater ein Samenspender war, weiß sie, aber das hat sie nie weiter interessiert – eher im Gegenteil, sie will gar nichts darüber wissen. Doch dann meldet sich Milo bei ihr, der vom selben Samenspender abstammt, also ihr Halbbruder ist. Zunächst reagiert sie ablehnend, doch Milo ist hartnäckig. Als sie sich treffen, sehen sie sich nicht nur sehr ähnlich, sondern haben auch viele Gemeinsamkeiten. Milo möchte unbedingt herausfinden, ob sie weitere Halbgeschwister haben. Außerdem würde er gerne seinen Vater finden, schon weil er unglaublich viele Allergien hat – vielleicht hat er die ja auch geerbt und sein Vater hat eine Therapie dagegen gefunden. Anfangs widerwillig lässt sich Hollis auf die Spurensuche ein, die im Laufe der Zeit eine unglaubliche Eigendynamik entwickelt und ihr Leben mehr auf den Kopf stellt, als sie sich jemals hätte vorstellen können.

Ganz schön irre das alles, oder?, schrieb Milo Robinson-Clark
Hollis setzte sich kerzengerade auf. Wie gruselig war das denn? Als hätte er ihre Gedanken gelesen, was natürlich nicht sein konnte, denn wie sollte er das gemacht haben?
Ich finds nicht irre.
Nicht?

Tja, dann wirds das jetzt, muss dir näml was erzählen
Ok
Bereit?
Yep
Ich will unseren samenspender finden
Hollis stockte der Atem.
Sie starrte auf ihr Handy. Dann las sie die letzte Nachricht noch mal, um sicherzugehen, dass sie nichts falsch verstanden hatte. (S. 12/13)

Plötzlich Schwester

Hollis ist eine Außenseiterin. In der Schule wird sie von einem Mädchen und ihren Freundinnen gemobbt, deswegen knutscht sie mit dem Freund dieses Mädchens herum, was das nicht besser macht, ihr aber Genugtuung bringt. Verliebt ist sie nicht, aber es macht ihr Spaß. Ihr Leben ist ziemlich schwierig, weil ihre (biologische) Mutter Leigh den Tod ihrer Frau Pam nicht verwunden und bei allem und jedem abwägt, was diese wohl dazu sagen würde. Hollis reagiert zunächst sehr ablehnend auf Milo und seine Pläne, aber als sie sich erst einmal darauf einlässt, macht sie viele spannende und bewegende Erfahrungen und lernt plötzlich viele Menschen kennen, die ihr mehr geben als ihre Klassenkameraden.

Milo ist ein sympathischer Junge, der wegen seiner Allergien Mitleid erregt. Er ist unglaublich hartnäckig, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Er gibt nicht auf, bis er Hollis auf seine Seite gezogen und seine Mütter mehr oder weniger überzeugt hat. Die Suche nach seinem Vater betrachtet der Vielleser als seine persönliche Heldenreise.

Beide sind nicht perfekt, haben Stärken und Schwächen, machen Fehler, zweifeln, sind auch mal abweisend oder ruppig, was sie für mich sehr realistisch und glaubwürdig machte.

Während die beiden Jugendlichen relativ normal wirken, machten die Mütter zunächst einen etwas überzogenen Eindruck auf mich. Hollis Mum redet mit einer Toten, Milos Mutter Frankie helikoptert heftig. Immerhin, Milos zweite Mutter Suzanne ist relativ normal. Alle Mütter haben sehr damit zu kämpfen, dass ihre Kinder auf einmal nach ihrem Vater suchen wollen. Vor allem Milos nicht-biologischer Frankie Mutter macht das zu schaffen.

JJ, Milos Kumpel, wirkt zunächst ziemlich überdreht. Auf den ersten Blick führt er ein grandioses Leben, doch warum kifft er dermaßen? Mit der Zeit findet man heraus, dass auch er viele Probleme hat. Er setzt sich sehr dafür ein, dass Milo sein Ziel erreicht – sozusagen stellvertretend für sich selbst. Er ist ein toller Kerl, der sich in Hollis’ Herz schmuggeln kann.

Und wer oder was ist N° 9677? Das ist die Nummer des Vaters in der Samenspenderkartei. Er hat zugestimmt, dass seine Nachkommen seinen Namen erfahren dürfen. Dennoch ist es nicht einfach, ihn zu finden. Ob er überhaupt an seinen Kindern interessiert sein wird?

Suche nach der Herkunft

Jedes Kind möchte wissen, wer es ist und wo es herkommt. Weiß es das nicht, wird es fast immer irgendwann Nachforschungen anstellen. Dieses Thema wird in diesem Buch auf sehr gelungene Art umgesetzt. Ein Jugendlicher auf der Suche nach dem Samenspender, der sein Vater ist, okay. Aber gleich eine ganze Gruppe von Jugendlichen? Während Hollis und Milo lesbische Mütter haben, finden sie noch andere Kinder, bei deren unterschiedlich geschlechtlichen Eltern das Kinderkriegen einfach nicht klappen wollte. Trotz völlig unterschiedlicher Lebensverhältnisse sind sie sich in mancher Hinsicht sehr ähnlich.
Dass Milos Freund adoptiert ist und ebenfalls gerne mehr über seine Herkunft erfahren würde, ihm dies von seinen Eltern bis zu seinem 18. Geburtstag aber verweigert wird, bringt noch einen weiteren Aspekt dazu.

Wer bin ich?

Das hätte ein furchtbar ernstes Buch werden können. Das ist aber zum Glück nicht passiert. Die Erlebnisse von Milo und Hollis sind so locker und lustig geschildert, dass es eine wahre Lust ist, das Buch zu lesen. Trotz aller Komik gleitet es nie ins Alberne ab. Die bewegenden Momente sind sehr glaubwürdig geschildert. Bei meiner Schilderung der Familienverhältnisse könnte man vielleicht denken, dass die lesbischen Mütter lächerlich dargestellt werden. Doch das ist nicht der Fall. Hollis ist zwar von ihrer Mutter Leigh und deren Trauer und ihrer Verehrung der gestorbenen Pam genervt, doch versteht sie sie dennoch und hat sie gern. Sie hat sich nur eine harte Schale aufgebaut und lässt ihre Gefühle nicht zu. Und Milo weiß genau, warum seine Mutter sich so um ihn sorgt, schließlich hat sie aufgrund seiner Allergien allen Grund dazu. Letztlich sind es ganz normale pubertäre Ablösungstendenzen in einem etwas ungewöhnlichen Setting. Die Suche der Jugendlichen hat aber auch Auswirkungen auf die Erwachsenen. Am Ende haben auch sie sich verändert.

Der Schreibstil ist locker. Viele glaubwürdige, jugendliche wörtliche Reden, etliche E-Mails, SMS und viel Witz machen das Buch abwechslungs- und temporeich und angenehm zu lesen. Die Handlung wird mal aus der Sicht von Hollis, mal aus der Sicht von Milo geschildert, sodass die Leser viel über das Innenleben der beiden erfahren. Ihre Gefühle fahren Achterbahn, was kein Wunder ist bei allem, was sie erleben. Das Ende hat mich etwas sprachlos zurückgelassen. Es war nicht schlecht, überhaupt nicht, aber nicht, was ich erwartet hatte.

Auch das Cover ist sehr gelungen: Es zeigt viele bunte DNA-Abschnitte, die man auch fühlen kann, da sie hervorgehoben sind.

Fazit: Ich bin begeistert! Glaubwürdige Protagonisten, die ich ins Herz geschlossen habe, in einem wundervolles Buch, das ein ernstes Thema berührend und doch voller Humor erzählt. Eine unbedingte Leseempfehlung für alle von 13 bis 16 Jahren!

Natasha Friend: N° 9677 oder Wie mein Vater an fünf Kinder von sechs Frauen kam. Aus dem Englischen von Jessika Komina und Sandra Knuffinke. Magellan 2017. 336 Seiten, Euro 17,00, ISBN 978-3-7348-5029-5.

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Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.