Bis zu diesem Augenblick werde ich denken, dass die Lateinschulaufgabe das Allerschlimmste ist.
Dann ändert sich alles.
[…] Und es gibt auch keine Helden. Denn in der realen Welt denkt man nur an sich. (S. 7)
Morgens hat Miriam noch eine SMS ihres Freundes Tobi bekommen, damit sie nicht verschläft, nun hockt sie von Panik gelähmt in der Jungstoilette ihrer Schule und muss miterleben, wie ein Amokläufer andere Schüler erschießt. Tobi stirbt, sie wird angeschossen. Die kommenden Tage und Nächte fühlen sich an wie ein Albtraum. Nur langsam gelingt es Miriam, wieder ins Leben zurückzukehren und Hilfsangebote anzunehmen. Es fällt ihr schwer, an etwas anderes zu denken: Warum hat sie Tobi nicht geholfen? War sie mit am Amoklauf Schuld, weil auch sie den Amokläufer gemobbt hat? Auch ihre Freundinnen haben Probleme mit dem Alltag zurechtzukommen. Miriam fürchtet, auch sie zu verlieren.
Das Buch ist heftig, anders kann ich es nicht sagen. Es ist aber auch berührend. Ich fand es teilweise atemberaubend, wie sich die Autorin derart in das Opfer eines Amoklaufs einfühlen kann. Natürlich weiß ich nicht, wie sich so jemand fühlt. Aber es ist absolut glaubhaft, dass sich Miriam oder jemand anderes mit ähnlichen Erlebnissen so fühlen könnte, wie es hier dargestellt wird. Das Buch bringt viel Stoff zum Nachdenken: über Mobbing, über Freundschaft, über Tod. Es gräbt sich ein und verschwindet nicht so schnell wieder aus den Gedanken. Wir Leser nehmen intensiv an Miriams Erleben vom Amoklauf über die entsetzlichen Tage und Wochen direkt danach bis zur Rückkehr in ein halbwegs normales Leben teil, auch wenn dieses Lebens niemals mehr so sein wird wie zuvor, weil die Lücken bleiben werden. Ihr Entsetzen, ihre Trauer, ihre Schuldgefühle, ihre Angst sind greifbar, aber auch die Hoffnungsschimmer, die sich nach und nach auftun. Und so ist es am Ende sogar ein wenig ein hoffnungsvolles Buch.
Wir sollten nicht so viel planen, sondern einfach leben. Wir haben Träume. Und oft verschieben wir sie auf später. Wir vergessen, dass später vielleicht zu spät ist. Zu leben ist eigentlich so einfach. Wir machen es selbst so kompliziert. (S. 200)
Das Buch beschäftigt sich vor allem mit Miriam, ihren Gedanken und Gefühlen. Sie ist oft ungerecht und unfair zu ihrer Familie, aber das macht das Buch für mich noch realistischer: Miriam hat Schreckliches, sie ist traumatisiert, da scheint es mir nur natürlich, wenn man sich über gutes Benehmen keine Gedanken macht und aus dem Bauch heraus handelt. Zu ihren einstmals besten Freundinnen, die ihr vielleicht eine Stütze hätten sein können und umgekehrt, findet sie kaum Kontakt. Jede entwickelt eine andere Art, mit dem Erlebten umzugehen, sich abzuschotten, sich zu betäuben, zu vergessen, die anderen kommen darin nicht vor. Das macht Miriam noch einsamer. Hilfsversuche ihrer Familie und der Therapeutin wehrt sie lange ab, weil sie der Meinung ist, dass sie sowieso niemand verstehen könne. Und richtig, die Worte der Außenstehenden sind hilflos. Wer wüsste schon, was er in solch einer Situation sagen sollte? So ist Miriams Wut zwar anstrengend für ihre Umwelt und für die Leser, aber sie ist auch verständlich. Wie alleingelassen muss man sich in solch einer Situation fühlen, in der niemand die richtigen Worte für das eigene Leid findet?
Rückblenden geben Einblicke in die glückliche Zeit vor dem Amoklauf: Miriams erste Liebe, schöne Erlebnisse mit den Freundinnen, Ärger mit ihrer Mutter, aber zunehmend auch immer wieder die Erinnerung an die Art und Weise, wie sie und ihre Freunde mit Matias, dem Amokläufer umgegangen sind. Sehr interessant fand ich vor allem, wie sich ihre Einstellung Matias gegenüber verändert. Zuerst ist das nur blanker Hass wegen dem, was er getan und ihr angetan hat. Mit der Zeit kommen die Erinnerungen an ihr fieses Verhalten zurück, angestoßen durch eine Frage ihrer besten Freundin. Mit der Zeit beginnt das schlechte Gewissen sich zu regen und Miriam bekommt Schuldgefühle. Es gelingt ihr immer noch nicht, das anderen gegenüber zuzugeben, was ich realistisch finde (Wer würde wohl öffentlich zugeben wollen, dass er mit seinem Verhalten einen Amoklauf ausgelöst hat, bei dem mehrere Menschen getötet wurden), aber sie versucht, ihn wenigstens nicht mehr zu hassen.
Ein Buch, das unter die Haut geht! Für Leserinnen und Leser ab 14 Jahren.
Anna Seidl: Es wird keine Helden geben. Oetinger TB 2016. 256 Seiten, Euro 8,99, ISBN 978-3-8415-0402-9.
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Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.