Antonia Michaelis: Die Attentäter

Drei Kinder, drei Wege – einer führt ins Dunkle

Drei fast gleichaltrige Kinder wachsen in einem Berliner Haus auf: Alain, dessen Vater Franzose ist, Margarete und Clifford, genannt Cliff, dessen Mutter ihn verlassen hat, als er vier Jahre alt war. Die beiden Jungen zeigen großes Talent zum Malen, auch wenn Cliffs Art zu malen die anderen verstört: Schon als kleiner Junge malt er Bilder, die nur aus dem obersten Stock zu erkennen sind. Es stellt sich heraus, dass er ein fotografisches Gedächtnis hat. Auch wenn die drei unterschiedliche Schulen besuchen, ganz unterschiedliche Wege gehen, sind ihre Schicksale immer eng miteinander verwoben. Cliff wächst in schwierigen Familienverhältnissen auf und hat von klein auf ein Problem mit dem Rest der Welt. Sein Weg scheint die Gewalt zu sein. Irgendwann landet er bei einer Gruppe von Neonazis, wo er endlich angekommen zu sein scheint. Aber nach einem schlimmen Vorfall fängt er ganz neu an – und wendet sich schließlich dem Islam zu, dessen Regeln und Vorschriften ihm den Halt geben, den er braucht. Aber in sich trägt er immer noch den Hass auf die Gesellschaft. Und so reist er eines Tages in die Türkei, um sich beim Islamischen Staat ausbilden zu lassen. Oder doch nicht? Als er wieder da ist, zweifeln seine Freunde. Was will er? Plant er mit seinen Freunden ein Attentat? Oder will er es verhindern? Steuert Berlin auf eine Katastrophe zu?

Wieso wird ein Mensch zum Attentäter?

Es ist sehr beeindruckend, wie dieses Buch die Entwicklung der drei Kinder nachvollzieht. Mal in der Gegenwart, mal in Rückblicken und aus der Sicht der drei Protagonisten wird die Geschichte von Alain, Cliff und Margarete erzählt. Von manchen Ereignissen erfahren die Leser gleich aus allen drei Perspektiven, aber nicht hintereinander weg erzählt, sondern dann, wenn einer der Protagonisten sich in irgendeinem Zusammenhang daran erinnert. So sind es am Anfang viele Bruchstücke, die erst nach und nach ein vollständiges Bild ergeben. Manche Bewertung und Einschätzung ändert sich dadurch auch im Laufe der Lektüre.

Die Charaktere der drei sind sehr detailliert herausgearbeitet, wobei ein stärkeres Augenmerk auf den beiden Jungen liegt, die sich von Anfang an zueinander hingezogen fühlen und nicht wirklich voneinander lassen können:
Alain, der Lockere, dem alles zuzufliegen scheint, der nette Eltern hat und der, vor allem nach Cliffs Einschätzung, Flügel zu haben scheint. Alain, der Engel. Der Retter.
Und Cliff, der etwas Dunkels um sich hat, schon als kleines Kind. Der von seinem Vater manchmal misshandelt wird, der oft Streit mit ihm hat, schnell aggressiv wird und sich als kleines Kind immer nach seiner Mutter sehnt, die gegangen ist, um zu studieren, später um Karriere zu machen. Die er erst sehnsüchtig liebt und später umso mehr hasst. Über ihren Hintergrund erfahren die Leser erst sehr spät etwas. Cliff hat immer das Gefühl, von der Gesellschaft fallengelassen worden zu sein, keinen Platz in ihr zu haben, und sich wehren zu müssen. Man kann seine Entwicklung, so schrecklich sie sein mag, gut nachvollziehen.
Die Dritte im Bunde ist Margarete, die Vernünftige, die keine Flügel hat, sondern sehr bodenständig ist und so die Jungen immer wieder auf den Boden zurückholt. Die vermittelt, Streit schlichtet, oft das Gefühl hat, nur eine Außenreiterrolle zu spielen, die aber für beide ungeheuer wichtig ist.

Es war verlockend. Zu kämpfen und dadurch das Richtige zu tun. Zu kämpfen und dadurch das gesamte Register an vergangenen Fehltritten zu löschen. Zu kämpfen.

Beunruhigende Lektüre

Dieses Buch ist kein Pageturner im eigentlichen Sinne. Ich konnte nie allzu lange an einem Stück lesen, musste das Buch immer wieder beiseitelegen und sich ein wenig setzen lassen. Dennoch ist es fesselnd, ich war sehr gespannt, wie es weitergeht, konnte aber nicht so viel auf einmal aufnehmen und habe mich auch in den Pausen gedanklich damit befasst.

Das Buch greift die jüngere Geschichte in Deutschland auf. Es spielt in der Hauptsache 2015 und 2016, viele Flüchtlinge kommen ins Land, viele Deutsche helfen auf die eine oder andere Weise, auch Alains Mutter und er selbst. Pegida demonstriert und es ist vollkommen unklar, wie es weitgergehen soll. Die Attentäter haben Berlin im Blick: den Alex, das KaDeWe, die Philharmonie, den Reichstag, das Berghain, den Hauptbahnhof … Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was passieren würde, wenn …

Es gibt viele Zeitsprünge, Rückblicke in die Kindheit, dann findet sich der Leser im Heute wieder oder nur ein oder zwei Jahre davor. Manchmal habe ich kurz nicht gewusst, in welcher Zeit ich mich befinde, aber das gab sich üblicherweise nach wenigen Zeilen. Manchmal habe ich auch für einen Moment nicht gewusst, welcher der drei Protagonisten gerade erzählt. Das machte die Lektüre nicht gerade einfach, aber auch spannend.

Faszinierend waren auch die Einblicke in die (mögliche?) Arbeitsweise des IS, die Rekrutierung, die Ausbildung, die verschiedenen Typen der jungen Leute, die in Deutschland davon fasziniert sind und warum.

Es gab Listen, in die man sich eintragen musste – Listen, wer zu was bereit war. Die berühmteste war die Liste der Selbstmordattentäter. Manche trugen sich nur ein, weil ihre Freunde es taten.

Beklemmend realistisch

Faszinierend ist, dass das Buch die jüngste Vergangenheit aufarbeitet, dann aber auch noch einen kleinen Schritt in die Zukunft geht. Von Anfang an liegen Schatten über der Geschichte. Der Leser weiß, dass etwas Schlimmes passieren wird. Zwischendurch dachte ich einige Male, dass ich es jetzt weiß, musste dann aber feststellen, dass ich mich geirrt habe. Es ist doch anders. Ich könnte mir vorstellen, dass das Buch anders wirkt, wenn man es in einigen Jahren im Rückblick liest. Alles steuert auf ein Ereignis Ende 2016 zu, also in zwei Monaten. Mit all den Nachrichten im Hinterkopf, die man täglich hört, sind die geschilderten Ereignisse erschreckend realistisch.

Antonia Michaelis ist hier ein hervorragendes Psychogramm dreier junger Menschen gelungen und die Vision einer Entwicklung, die hoffentlich niemals so eintreten wird, aber leider absolut möglich erscheint. In manchen Teilen war mir ihr Bericht zu langatmig und detailliert, nicht alles konnte ich absolut nachempfinden, vor allem, warum Alain sich nach allem, was passiert, immer noch zu Cliff hingezogen fühlt. Aber dann kam wieder eine Stelle, die mich gefesselt hat, und das Buch hatte mich wieder. Ich musste einfach erfahren, wie es ausgeht, sonst hätte mich die Geschichte noch wochenlang nicht in Ruhe gelassen.

Fazit: Über weite Teile spannend, wirklichkeitsnah und erschreckend. Definitiv nichts für schwache Nerven. Für Leserinnen und Leser ab 16 Jahren.

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Antonia Michaelis: Die Attentäter. Oetinger 2016. 448 Seiten, Euro 19,90, ISBN 978-3-7891-0456-5.

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Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.