Bilderbücher für Blinde

BILDERbücher für Blinde? Vielleicht seid ihr beim Lesen dieses Titels auch im ersten Moment ein wenig verwirrt. Aber wenn man ein wenig weiterdenkt, wird einem klar, dass Blinde mit ihren Fingern sehen und die Eltern blinder Kinder ihnen gerne Bücher vorlesen möchten, bei denen sie etwas entdecken können.

Ich habe heute zum ersten Mal ein Barcamp besucht, Kinder Jugend Medien in Erfurt (#bcef5). Dort habe ich die Session Medien fur ALLE! Bücher für ALLE! Taktile Bilderbuchillustration für ein inklusives Medium besucht, gehalten von Vera Göckelmann, die sich im Rahmen ihrer Masterarbeit mit diesem Thema auseinandergesetzt hat.

Zunächst zeigte uns Vera ein Bild, das ein blindes Kind gemalt hat. Es zeigte zwei waagerechte Striche, daneben einen senkrechten Strich. Keiner der Teilnehmer erriet, was das Bild zeigte. Es war ein Bus: die zwei Eingangsstufen und die Haltestange, also das, was das Kind vom Bus wahrnahm. Das zeigte uns sehr deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmung Blinder von der Welt ist. Eigentlich logisch, dass ein taktiles Buch sie an diesem Punkt abholen muss.

Wir schauten uns ein Bilderbuch mit vielen taktilen Elementen an, aber schnell wurde deutlich, dass ein blindes Kind nichts damit anfangen kann, wenn Teilbereiche rau oder pelzig sind oder Umrisse markiert sind. Während es einen kleinen Gegenstand wie einen Löffel durchaus über seinen Umriss begreift, funktioniert das bei einem großen wie einem Auto nicht. In diesem Buch wurden auch Sternbilder gezeigt. Dabei waren erhabene Punkte mit erhabenen Strichen verbunden. Das könnte das blinde Kind fühlen. Aber es würde dadurch nicht begreifen, was der nächtliche Himmel, ein leuchtender Stern und gar ein Sternbild ist.

Also basteln Eltern von blinden Kindern häufig selbst Bücher. Es gibt Bücher im Reliefdruck, die aber für Sehende vollkommen unattraktiv sind, also nicht inklusiv eingesetzt werden können.

Ganz anders beim taktil gestalteten Buch Wir gehen auf Bärenjagd von Michael Rosen. Jeweils auf der linken Seite steht der Text in Braille und Druckschrift. Auf der rechten Seite kann man die Erlebnisse der Kinder mitverfolgen. Über die Seiten spannt sich eine Schnur, an der ein Holzstück weitergeschoben wird.

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Auf dem Weg geht es unter anderem durch Matsch (Leder), einen Wald (senkrechte Holzstäbe), über einen Fluss (knisterndes Papier) und hohes Gras (Stoff(?)streifen). Am Ende wird der Bär gefangen. Man kann sein Maul aufklappen und die spitzen Zähne darin spüren. So kann das Abenteuer gefühlt, aber auch von Sehenden miterlebt werden. Ein wirklich tolles Buch!

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(c) Bärenbilder: Anderes Sehen e. V.

Natürlich gibt es einen Haken dabei, und zwar den Preis. Die Bücher werden in Frankreich aufwendig in Handarbeit hergestellt, die Zielgruppe ist klein, daher beträgt die Auflage nur 200. Subventioniert von Anders sehen e. V. und der Aktion „Ein Herz für Kinder“ kostet ein Buch 74 Euro, der kostendeckende Preis beträgt sogar 148 Euro. Vielleicht werden manche Eltern blinder Kinder diesen Betrag aufbringen, Kinder sehender Kinder aber sicher nicht, denn für sie gibt es ja viele andere schöner Bücher zu wesentlich günstigeren Preisen. Schön wäre es aber, wenn viele Einrichtungen und Bibliotheken dieses Buch kaufen würden.

Vielen Dank an Vera Göckelmann, durch die ich eine mir völlig neue Art von Büchern kennenlernen durfte. Mehr zu taktilen Bilderbüchern erfährt man auf der Facebookseite von Sei kein Hasenfuss e. V. (eine Website ist in Arbeit).

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Michael Rosen: Wir gehen auf Bärenjagd. Anderes Sehen e. V. 2015, 22 Seiten plus eine Ausklappseite, 10 taktil illustrierte Seiten, Euro 74,00/148,00, ISBN 978-2-36593058-1.

Erhältlich bei Kohllibri.de

Der Verein Anderes Sehen e. V. hat sich bei mir gemeldet. Es handelt sich dabei um eine Elterninitiative. Vier der neun taktilen Bilderbücher sind bereits wieder vergergriffen, um Neuauflagen oder neue Bücher veranlassen zu können, sind Spenden notwendig. Ich finde, das ist wirklich unterstützenswert! Hier findet ihr weiterführende Informationen und das Spendenkonto: http://www.anderes-sehen.de/spenden/

5 Kommentare zu “Bilderbücher für Blinde

  1. Ich habe zwischen 1983 + 1995 Bilderbücher für blinde Kinder hergestellt. + Aufgrund der Arbeitszeit, der steigenden Materialkosten + der immer längeren Wartezeit für Eltern von + Institutionen für sehbehinderte, blinde + mehrfachbehinderte Kinder im Vorschul- + ersten Lesealter — diese Bilderbücher in Bastelhefte verwandelt. Von den 18 Titel habe ich noch etwa 14 vorrätig, die vergriffenen würde ich auf Wunsch in Kleinauflagen nachdrucken. Zu finden auf der Facebook-Seite des Anne Fischer Verlages unter Bastelhefte oder einfach bei mir anfragen 😉

    • Ich habe leider kein Facebook, also kann ich auch nicht sehen, welche Bücher es noch gibt. Ich bin auf der Suche nach einen Tag ziehen unterhalten, dass du nur blinde es auch autistische Kinder geeignet ist. Schade. Inzwischen sind sie wahrscheinlich so oder so alle vergriffen. Ich bin auf diese Seite gestoßen, weil ich auf der Suche nach einem Kuchen, dass sowohl unter ist, als auch taktieren. Das soll ein Geburtstagsgeschenk für einen autistisches Kind werden. Nun ja. Ich werde schon noch was finden.

  2. Pingback: Das Kinderohren-Jahr in Zahlen – Kinderohren

  3. Hallo, der Preis für die hochwertigen Bücher erscheint auf den ersten Blick sehr hoch, das ist er sicherlich auch, im Vergleich zu anderen Bilderbüchern. Blinde Kinder bekommen jedoch oft Blindengeld und die Tastbücher gehören in den ersten Jahren sicherlich zu den Dingen die davon angeschafft werden. Für uns war dies jedenfalls gut möglich. Bedenkt man den Aufwand, Handarbeit und die Qualität kann ich damit auch gut leben.

    Viel größeres Problem ist aber: Es gibt davon nur sehr wenige. Wir haben alles gekauft, was zu haben war, Jahre bevor wir die Bücher überhaupt benutzen können.

    Man stelle sich also vor, welches Kind heutzutage mit 6 oder 7 Bilderbüchern aufwächst. Blinde Kinder tun das, wenn die Eltern nicht noch selbst basteln (weit verbreitet, aber auch nicht so hochwertig).

    Die Existenz dieser hochwertigen Bücher ist leider auch nur auf die Arbeit von betroffenen Eltern zurückzuführen. Es gibt keine Stiftung oder ähnliches, welche sich dieses Themas annimmt (schon die Finanzierung fehlt), die klassischen Akteure (Stiftung Lesen etc.) die Lesen bei Kindern fördern fühlen sich nicht zuständig.

    Zum Vergleich: Frankreich besitzt hier deutlich bessere Infrastruktur und rund 200 Titel.

    Ich finde es aber schön zu lesen, dass dieses Thema auch abseits der Blinden-Szene stattfindet!

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