Der geheime Garten ist ein Klassiker, den ich schon lange auf meinem Stapel liegen habe, der Teil der Bücherkultur Challenge ist und den ich an Weihnachten endlich gelesen habe.
Ein verwöhntes Mädchen lernt zu leben
Mary ist in Indien geboren und aufgewachsen. Als ihre Eltern sterben, wird sie zu ihren Onkel nach England gebracht. Fortan lebt sie auf seinem abseits gelegenen Anwesen. In Indien wurde sie von ihrem Kindermädchen versorgt und musste sich nicht einmal selbst anziehen. All ihre Wünsche wurden anstandslos erfüllt, sodass sie zu einem ziemlich unleidlichen Mädchen wurde. In England funktioniert das auf einmal nicht mehr. Sie ist weitgehend sich selbst überlassen. Als sie die Gegend erkundet, erfährt sie von einem geheimen Garten. Das lässt ihr keine Ruhe und sie begibt sich auf die Suche …
Ein Garten als Therapie
Ich muss gestehen, dass mich dieses Buch etwas zwiegespalten zurücklässt. Einerseits ist es eine wunderschöne Geschichte darüber, wie ein Mädchen mit Hilfe eines Gartens zu sich selbst findet. Mary entwickelt sich von einem kränklichen, egoistischen Kind zu einem gesunden, kräftigen und abenteuerlustigen Mädchen, das sich zumindest um einige andere Menschen sorgt und bemüht. Immerhin fallen ihr fünf Personen ein, die sie mag (auch wenn eine davon ein Rotkehlchen ist), zuvor mochte sie niemanden. Auch ihr Cousin Colin macht eine wunderbare Entwicklung durch.
Die Geschichte des Gartens ist schön und berührend. Mit welcher Liebe das Wachsen der Pflanzen geschildert wird, ist beeindruckend und wirkt sehr plastisch.
Es machte mich aber sehr traurig, wie hier Kinder vernachlässigt und regelrecht misshandelt werden. Mary wurde in Indien zwar versorgt, musste aber ohne Liebe aufwachsen. Dann wird sie zu einem Onkel gebracht, der nie da ist und sich nicht für sie interessiert (hier ist eine kleine Parallele zu „Der kleine Lord“ zu erkennen, das ebenfalls von Hodgson Burnett stammt). Sie bekommt keinen Unterricht, einzig das Hausmädchen Martha schaut täglich nach ihr. Sie bekommt Essen und Kleidung, das war es aber auch schon. Martha schickt sie nach draußen, weil sie der festen Überzeugung ist, dass die gute Luft Wunder wirken wird (was sich auch bewahrheitet) und schenkt ihr ein Springseil.
Noch schlimmer ist es bei Colin. Aus Angst, dass der Junge erkranken könnte, verbringt er sein gesamtes Leben im Bett und muss mitanhören, wie Ärzte und Personal darüber diskutieren, dass er wohl nicht sehr alt werden wird. Dass er dabei unleidlich wird, finde ich nicht weiter verwunderlich. Ich musste schon sehr schlucken, als ich das alles gelesen habe. Wie gut, dass es ein Happy End gibt!
Der Garten war eine Wildnis von herbstlichem Gold, Purpur, Violett und flammendem Rot. Späte Rosen bildeten dichte Vorhänge und die Sonne brachte die Farben des gelben Laubes noch stärker zur Geltung. Es war, als stünde man in einem goldenen Tempel. Der Neuankömmling stand schweigend da, gerade so wie die Kinder, als sie das erste Mal hier gewesen waren.
Magie steckt in allen Dingen
Zwei unsympathische, ohne Liebe aufgewachsene Kinder finden also den Weg ins Leben, fast allein, ohne besondere Hilfe durch die Erwachsenen. Nur das einfache Hausmädchen, seine Mutter und der grummelige alte Gärtner leisten etwas Hilfestellung. Wesentlich wichtiger ist die Bekanntschaft mit Marthas jüngerem Bruder Dickon, der eine besondere Begabung im Umgang mit Tieren und Pflanzen hat. Wie Mary sich ganz aus eigener Kraft entwickelt, wird sehr überzeugend geschildert, wobei ich die die wundersame Wirkung davon, ein Kind den ganzen Tag allein an die frische Luft zu schicken, auch wenn es die Luft von Yorkshire ist, doch eher bezweifele. Und auch die gebrochene Seele des Onkels wird durch Marys Entdeckung und die Arbeit der Kinder geheilt. Eine große Rolle spielt dabei etwas, was in allen Dingen steckt und was die Kinder „Magie“ nennen. Am Ende sind also alle glücklich.
Ich mag das Buch, auch wenn ich gestehen muss, dass ich ein bisschen erstaunt über die große Begeisterung bin, die es allgemein hervorruft. Es hat einen altmodischen Flair, der mir gefällt, stellenweise fand ich es aber etwas langatmig, vor allem am Anfang. Insgesamt ließ es sich aber gut lesen. Zumindest war ich am Ende so gefesselt, dass ich mich sehr geärgert habe, als ich zwanzig Seiten vor Schluss unterbrechen musste.
Fazit: Ein Klassiker für Kinder von 10 bis 12 Jahre.
Frances Hodgson Burnett: Der geheime Garten. Aus dem Englischen von Freya Stephan-Kühn. Arena 4. Auflage 2014. 224 Seiten, Euro 8,99, ISBN 978-3-401-06523-6.
Zur Verlagsseite – bei Amazon – über Buchhandel.de – und in jeder Buchhandlung
Ich bin über den Link, den du in der Bücherkultur Challenge Gruppe geteilt hast hier gelandet.
Deine Rezension hat von der positiven und von der negativen Seite etwas. Ich bin ja mal gespannt, wenn ich das Buch mal lesen sollte, wie es mir gefällt. Schließlich hat es thematisch betrachtet einen Hintergrund, der tiefer reicht, als es an der Oberfläche den Anschein macht.
Zumindest werde ich das Buch auf keinen Fall von der Liste streichen wollen. 🙂
Liebe Grüße
Henrik
Nein, ich denke nicht, dass man dieses Buch streichen sollte oder müsste. Es ist ein Kinderbuch und schnell gelesen, aber trotzdem nicht ohne Anspruch.
Eigentlich ist das verwahrloste Waisenkind (oder eines im Internat zurückgelassenen Kindes, deren Eltern sich irgendwo im Empire “herumtreiben”) typisch für die englische (und nicht nur die englische) Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts. Ich habe gerade versucht, mich an international erfolgreiche englische Titel zu erinnern, die in glücklichen Familien spielen. Auf Anhieb fällt mir keiner ein. Den Autorinnen kam dieser Topos natürlich sehr entgegen:
“Orphans have a special place in the history of the novel, especially in the 19th century. There is a real social history behind these fictional orphans. But orphaning your main characters was also fictionally useful – a means by which they were made to find their way in the world.”
Quelle: https://www.bl.uk/romantics-and-victorians/articles/orphans-in-fiction
🙂
Das stimmt, man muss ja nur bei Charles Dickens schauen. Früher fand ich das zwar auch traurig, aber es hat mich nicht so wütend gemacht wie heute. Vielleicht werde ich mit den Jahren da etwas dünnhäutig, keine Ahnung. Natürlich eignet sich der Topos gut, um die britische Variante des “vom Tellerwäscher zum Millionär” zu beschreiben: Trotz aller Widrigkeiten wird aus dem unglücklichen, bemitleidenswerten Kind ein glücklicher Mensch, der ganz nebenbei auch noch ein paar andere Menschen glücklich macht.
Und es kommt gut an! 🙂 Mich reizten in früheren Zeiten die Bekanntschaftsanzeigen in den Zeitungen zum Lachen, in denen meistens “arme Waisenkinder (natürlich längst den Kinderschuhen entwachsen) einen herzensguten Mann zum Heiraten” suchten. Ob die Masche damals wohl zog? Aber das ist eine andere Geschichte. 😉
Pingback: Lesechallange mit offenem Ende – Teil 1 Klassiker | Wortakzente