Käfer statt Puppen
Sibylla ist ein ungewöhnliches Kind. Anders als die anderen Kinder in der Nachbarschaft liebt sie Pflanzen und kleine Tiere: Libellen, Schmetterlinge, Käfer, Frösche, Kreuzottern und was sie sonst noch entdecken kann. Die anderen finden das eklig, ja, sie bezeichnen Sibylla sogar als Hexe. Sie will diese Beschäftigung aber nicht aufgeben, hält sie daher geheim. Sie sammelt, beobachtet und zeichnet und verbringt viel Zeit in ihrer Welt. Da entdeckt sie eines Tages wunderbare Tulpen im Garten des unfreundlichen Nachbarn …
Ein unbekannter Duft aus dem Nachbargarten lockte sie eines Abends aus ihrem Versteck. Sibylla wusste sofort: Diese Tulpen musste sie malen! Allerdings würde der Nachbar, ein reicher Graf, sie nie in die Nähe seines Blumenschatzes lassen …
Das Buch endet mit einem Ausblick auf das erfolgreiche Leben Merians als Forscherin und Malerin.
Mehrere Pflanzen, Käfer und Schmetterlinge tragen ihren Namen.
Dieser zum Beispiel heißt:
Heliconius melpomene meriana
Ein ungewöhnliches Mädchen
Ich muss gestehen, dass mich dieses Bilderbuch ein wenig zwiegespalten zurücklässt. Ich finde es sehr wichtig, dass Kinder, vor allem Mädchen, den Lebensweg von Frauen kennenlernen, die trotz aller Widerstände ihren Weg gegangen sind. Gerade für jüngere Kinder gibt es da vor allem Biografien von Prinzessinnen wie Sissi oder der Heiligen Elisabeth. Deswegen hatte ich mich sehr auf dieses Bilderbuch der unkonventionellen Wissenschaftlerin und Künstlerin Maria Sibylla Merian gefreut. Der Anfang des Buches gefällt mir auch gut. Das Mädchen interessiert sich für Pflanzen, Käfer und Spinnen und lässt sich nicht davon abbringen. Merian hatte großes Glück und wurde von ihrer Familie unterstützt. Aber was macht das Mädchen im Buch? Es möchte unbedingt die wundervollen Tulpen im Garten des Grafen zeichnen. Weil es davon ausgeht, dass der Graf das nicht erlauben wird, reißt es nachts alle Blumen aus und zeichnet sie heimlich.
Ist diese Geschichte überliefert? Im Klappentext steht, dass sie sich in ihrer Kindheit zugetragen haben soll. Ich kann mir das kaum vorstellen. Tulpen waren zur damaligen Zeit sehr wertvoll und teuer, ich bezweifle, dass sich der Graf durch ihre Bilder hätte besänftigen lassen. Aber ich weiß es natürlich nicht. Ich frage mich aber, wie die zuhörenden Kinder das einschätzen. Kinder haben ja meist einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Sibyllas Verhalten richtig finden. Die Geschichte geht gut aus, der Graf ist von ihren Bildern so begeistert, dass er ihr verzeiht und ihr die Strafe erlässt. Danach muss sie nie mehr heimlich malen.
Die Geschichte zeigt also ein Mädchen, das für die Wissenschaft brennt, das forschen, Dinge herausfinden und zeichnen will, allen Widerständen zum Trotz. Man kann die Geschichte also gut zum Anlass nehmen, um mit Kindern darüber zu sprechen, wie weit ein Wissenschaftler gehen darf, um zu seinen Erkenntnisse zu kommen. Die meisten Wissenschaftler mussten Widerstände überwinden und Grenzen überschreiten, dafür kann das Verhalten des Kindes stehen. Ob man das in jedem einzelnen Fall gut findet, lässt sich ja diskutieren.
Die Bilder gefallen mir sehr gut. Sie zeigen teilweise ungewöhnliche Perspektiven, Insekten groß und in Farbe, die anderen Kinder tauchen nur in Schwarz-Weiß auf. Sibyllas unkonventionelles Wesen wird auch in ihrem Aussehen gespiegelt. Während die anderen Kinder mit Sorgfalt gelegte Locken und ordentliche Kleider haben, wird Sibylla zerzaust und schmutzigen, mit Farbe beklecksten Kleidern dargestellt.
Ich denke, dass es mit diesem Bilderbuch auf jeden Fall gelingen dürfte, die Kinder für die wundervollen Zeichnungen von Pflanzen und Tieren, vor allem Insekten, zu begeistern, die Merian angefertigt hat und ihnen zu zeigen, dass es immer Frauen gegeben hat, die Ungewöhnliches erreicht hat, selbst vor 300 Jahren, als das noch viel schwerer war als heute.
Fazit: Tolle Bilder, eine ungewöhnliche Geschichte, die sicherlich die Basis für gute Gespräche bilden kann. Eine gute Möglichkeit, um Kindern ab 5 Jahren eine Wissenschaftlerin und Künstlerin und ihre Arbeiten näherzubringen.
Benita Roth: Sibylla und der Tulpenraub. Seemanns Bilderband 2017. 24 Seiten, Euro 14,95, ISBN 978-3-865-0287-2.
Zur Verlagsseite – bei Amazon – bei Buch7 – im Onlineshop eurer Buchhandlung – und in der Buchhandlung um die Ecke.
Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
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