Agnès de Lestrade, Valeria Docampo: Die Schneiderin des Nebels

Leben in Trauer

Rosa ist Schneiderin. Jeden Morgen fischt sie den Nebel, spinnt daraus Fäden, aus denen sie Kleidungsstücke, Teppiche, Vorhänge webt. Da sich alle Stoffe mit der Zeit wieder verflüchtigen, brauchen die Leute ständig Nachschub. Die Stoffe sind äußerst begehrt, da sie eine besondere Eigenschaft haben: Sie verstecken Dinge, die man damit bedeckt und die man nicht mehr sehen mag. Mit der Zeit ist das ganze Land mit einem grauen Schleier bedeckt.

Eines Tages bekommt Rosa einen Brief. Sie erschrickt. Schnell verdeckt sie ihn, doch zu spät, er hat Erinnerungen bei ihr ausgelöst. Sie denkt an ihre Kindheit, an wundervolle Tage mit beiden Eltern. Und auch an Streit und die Zeit, als ihr Vater einfach aus ihrem Leben verschwunden ist. Als sie den Brief schließlich doch liest, fühlt sie sich sofort besser. Sie verändert ihr Leben und am Ende mag sie keine Kleidung aus Nebel mehr weben. Stattdessen webt sie lieber Kleider aus Sonnenstrahlen.

Leben im Glück

Vermutlich hätte sie es nicht einmal sagen können, doch seit ihr Vater sie verlassen hat und von ihrer Mutter nicht mehr erwähnt wurde, trauert Rosa. Ihre Trauer drückt sie in ihrer Arbeit aus. Weil sie allen damit hilft, Unangenehmes verschwinden zu lassen, sind ihre Stoffe sehr beliebt. Aber sie tragen dazu bei, ein bedrücktes Gefühl im ganzen Land zu verbreiten. Als der Brief ihr Hoffnung bringt und erst recht, als ihr Vater endlich wiederkommt, verändert das Glück alles: ihre Gefühle, ihr Leben, ihre Arbeit. Rosa sorgt dafür, dass das ganze Land an ihrem Glück teilhaben kann. Der Nebel ist von ihrer Seele verschwunden.

Traurigkeit verdeckt alles

Ihre Trauer über den Verlust ihres Vaters überdeckt Rosas ganzes Leben, obwohl sie schon so viele Jahre her ist. Kinder, die gerade die Trennung ihrer Eltern mitgemacht haben, kennen diese Gefühle: Leere im ganzen Körper; das Gefühl, als ob ein grauer Schleier über allem liegt, was sie tun; das Gefühl, nie mehr lachen zu dürfen oder zu wollen. Diesem Bilderbuch gelingt es, diese Empfindungen in Worte und vor allem in Bilder zu fassen. Die Bilder sind zart, wirken flüchtig. Viele Seiten bestehen aus einem milchigen, durchscheinenden Papier, sodass es tatsächlich wirkt, als läge ein Nebel über allem. Dass man durch die Seiten hindurch schemenhaft sehen kann, was sich auf der nächsten Seite befindet, verstärkt diesen Eindruck noch. Das ist faszinierend und wunderschön! Am Ende sind die Bilder nicht mehr grau, sondern in bräunlich-goldenen Tönen gehalten.

Lieben, lachen, leben

In der Geschichte gibt es ein Happy End: Der lange vermisste Vater kommt zurück, Rosa kann wieder glücklich sein. Die Leere in ihrem Körper verschwindet, es gibt wieder Raum für Liebe und Licht. Wie zuvor die Trauer drückt sich auch Rosas Glück in ihrer Arbeit aus und wirkt somit ansteckend auf andere. Dieses Ende ist einerseits sehr schön, andererseits das Einzige, was ich an diesem Buch zu kritisieren habe. Es zeigt, dass sich Hoffnung lohnt, dass das Warten und damit die Trauer ein Ende haben können. Doch wird es viele Kinder geben, die vergebens warten. Oder die sich nicht vorstellen können, so viele Jahre warten zu müssen wie Rosa. Eigentlich wäre es schöner, wenn die Kinder den Verlust im Laufe so vieler Jahre verarbeiten könnten. Natürlich dürfen sie traurig sein, wenn sie an den Verlust denken, aber er sollte nicht ihr ganzes Leben dominieren wie bei Rosa, denn das ist doch eine sehr niederschmetternde und erdrückende Perspektive.

Seitenhieb auf unsere Gesellschaft

Amüsiert hat mich dagegen, dass Rosas triste Nebelstoffe deshalb so begehrt sind, weil man damit Unschönes verschwinden lassen, also ganz praktisch unter den Teppich kehren kann. Wenn man es weiterdenkt, muss das glückliche Ende, als wieder Sonne, Licht und Wärme ins Land kommen, ein ziemlicher Schock für die Menschen dort sein. Plötzlich kommen alle Schadtaten, alles mühsam Verborgene wieder zutage. Aber vielleicht helfen ihnen gute Laune und Glücksgefühle, die damit verbunden sind, damit endlich fertigzuwerden.

Es ist also ein sehr philosophisches Buch, in dem auf wenigen Seiten sehr viele Erkenntnisse versteckt sind. Wahrscheinlich lohnt es sich, es immer wieder zu lesen.

Fazit: Ein wunderschön gestaltetes, nachdenkliches Buch über Trennung, Wiedersehen, Unglück und Glück für Kinder von 4 bis 7 Jahren.

Agnès de Lestrade, Valeria Docampo: Die Schneiderin des Nebels. Mixtvision 2018. 48 Seiten, Euro 17,90, ISBN 978-3-95854-130-6.

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