Marion Achard: Am Ende des Regenwaldes

Marion Achard: Am Ende des Regenwaldes

Vertreibung aus dem Paradies

Daboka ist Mitglied eines kleinen indigenen Stammes, der völlig abgeschieden im ecuadorianischen Regenwald lebt.

Ich heiße Daboka.
Ich lebe im Bauch des großen Waldes.
Dort, wo die Bäume so hoch sind, dass die Sonnenstrahlen das Blätterdach so gut wie nie durchdringen.
Dort, wo die Lianen ins Herz der Erde tauchen.
Dort, wo sich die Insekten, Affen, Schlangen und Vögel viel lebhafter bewegen und unterhalten als die Menschen.

Zu Beginn schildert Daboka ihr Leben, ihre Beschäftigung, sie berichtet von ihrer kleinen Schwester, ihrer Mutter und den anderen Mitgliedern des Stammes. Wie immer an Vollmond macht sich die kleine Gruppe schließlich auf zu dem Stamm am anderen Ende des Weges. Doch unterwegs passiert etwas:

Und als der Gestank unerträglich ist, uns die Atemluft aus den Lungen drückt und in unseren Augen brennt, sehen wir das Undenkbare vor uns.
Genau da.
Hört der Weg auf.
Zerschnitten.
Von einem bläulich schwarzen Band.
So breit, dass niemand es überspringen kann.
So lang, dass man weder Anfang noch Ende sieht.
(…)
Der Wald wird von ihm in zwei Stücke zerteilt.
Aufgeschlitzt.

Als sie auch noch von einem der Straßenbauarbeiter entdeckt werden, kehren sie um. Lange diskutieren die Stammesmitglieder, was nun zu tun ist. Der Älteste macht sich auf den Weg zu einer Gruppe, die in nicht mehr im Regenwald lebt, um um Rat zu bitten.

Einige Tage später sind die Mädchen gerade beim Spielen, als sie Lärm hören. Sie laufen zurück, verstecken sich und sehen, dass alle Mitglieder des Stammes von weißen Männern getötet wurden. Sie werden eingefangen und in ein Dorf gebracht, wo sie wie wilde Tiere bestaunt werden. Schließlich versucht man, sie zu zivilisieren. Loca lernt schnell Spanisch, akzeptiert Kleidung und ihre neue Familie, sie beginnt, den Urwald zu vergessen. Daboka jedoch vergisst nicht. Sie will unbedingt zurückkehren und den Stamm am anderen Ende des Weges warnen.

Achtsames Leben

Sehr schön wird zu Anfang des Buches das Leben des Stammes beschrieben: Wie die Kinder spielen, gewaschen werden, die Frauen das Essen zubereiten und die Mädchen helfen, während die Männer auf der Jagd sind. Genau wird dargestellt, wie sie die Haut in Vorbereitung des Treffens mit dem Stamm vom anderen Ende des Weges färben. Man kann sich das Leben dieser kleinen Menschengruppe, das aus der Sicht des Mädchens Daboka geschildert wird, sehr gut vorstellen. Es wirkt einfach, vielleicht auch primitiv, aber im Einklang mit der Natur. Die Menschen sind offensichtlich mit ihrem Leben zufrieden.

Besonders eindrücklich fand ich die Schilderung des Marschs der Gemeinschaft zu der Gruppe am anderen Ende des Weges: Der Trampelpfad existiert schon seit Generationen, jeder tritt immer in die Spur des Vordermanns. Das bedeutet, dass die Schrittlänge kurz genug sein muss, dass die Kinder dies auch tun können. Als die beiden Mädchen von den Weißen aus dem Dschungel geführt werden, gehen sie auch diesen Pfad, sind aber völlig verunsichert, weil die Schrittlänge zu lang ist und sie es nicht schaffen, in die Spur ihres Vorgängers zu treten. Sie können deshalb kaum laufen. Dieses kleine Detail zeigt meines Erachtens sehr gut die Achtsamkeit des Stammes sowohl gegenüber der Natur (der Eingriff wird so klein wie möglich gehalten) als auch gegenüber den Kindern.

Willkommen in der „Zivilisation“

Die Begegnung mit den Straßenarbeitern bedeutet das Ende der kleinen Gemeinschaft. Vermutlich haben die Männer Angst, dass die Straße nicht weitergebaut werden darf, wenn bekannt wird, dass dort ein unberührter Indiostamm lebt. Wir erfahren aber nichts über die Beweggründe, da wir alles nur aus Dabokas Blickwinkel erleben. Die Männer gehen mit größter Grausamkeit vor, nur die Kinder lassen sie am Leben. Diese sind völlig überfordert. Sie verstehen nicht nur die Sprache nicht, sondern die Lebensart ist ihnen insgesamt völlig fremd. Daboka ist nicht bereit, sich anzupassen, sondern sie bleibt rebellisch.

Wahre Geschichte

Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Ich finde sie sehr erschütternd, weil sie sehr deutlich macht, dass es mit der angeblichen Überlegenheit unserer Zivilisation nicht weit her ist. Wenn es um die Ausbeutung des Regenwaldes geht, machen die Weißen keine Kompromisse. Vermutlich verstoßen sie dabei gegen Gesetze, aber wenn niemand davon erfährt … Die Leserinnen und Leser werden sich sicherlich einige Gedanken darüber machen, was es bedeutet bzw. bedeuten sollte, zivilisiert zu sein.

Da Daboka in der Ich-Form erzählt, erlebt man alle Ereignisse durch ihre Augen und kann sich gut in ihre Lage hineinversetzten. Das wirkt sich auch auf den Sprachstil aus. Die meisten Sätze sind kurz und eindringlich. Was die Weißen erzählen, ist auf Spanisch, sodass die meisten Leser ebenso wenig verstehen werden wie die beiden Mädchen. Daboka versteht überhaupt nicht, was mit ihr passiert, zum Beispiel, als sie geimpft werden, wir können es uns jedoch zusammenreimen. Ich war erschüttert, dass sich zunächst niemand die Mühe macht, jemanden zu suchen, der die Sprache der Mädchen spricht.

Fazit: Ein sehr bewegendes und absolut empfehlenswertes Buch, das sehr drastisch vor Augen führt, welche Folgen die Erschließung und Ausbeutung des Regenwaldes hat und wie grausam die Gesellschaft mit den indigenen Völkern umgeht. Für Kinder ab 12 Jahren und Jugendliche.

Marion Achard: Am Ende des Regenwaldes. Aus dem Französischen von Anna Taube. Magellan 2019. 96 Seiten, 11 Euro, ISBN 978-3-7348-5044-8.

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