John Boyne: Der Junge auf dem Berg

John Boyne: Der Junge auf dem Berg

Was wird aus einem Kind, das im Umfeld Hitlers aufwächst?

Der Junge im gestreiften Pyjama von John Boyne war ein großer Erfolg, wohl auch wegen seiner ungewöhnlichen Herangehensweise an das Thema Holocaust. Auch mich hat es sehr beeindruckt. Daher war ich sehr gespannt auf sein neues Buch, in dem er wieder einen Aspekt der Nazizeit durch die Augen eines Kindes betrachtet.

Pierrot wächst zunächst in Paris auf. Seine Mutter ist Französin, sein Vater Deutscher, was nach dem Ersten Weltkrieg, in dem auch Pierrots Vater gekämpft hat, nicht immer ohne Probleme abläuft. Pierrots bester Freund ist Angel, ein gehörloser jüdischer Junge, der im gleichen Haus wohnt. Die beiden haben eine Gebärdensprache entwickelt. Als Pierrots Eltern sterben, kommt er zunächst in ein Waisenhaus, dann holt ihn eine Schwester seines Vaters zu sich. Tante Beatrix arbeitet als Haushälterin auf dem Berghof, wo Pierrot, der jetzt Peter genannt wird, von Hitler ein wenig unter seine Fittiche genommen wird. Der Junge bewundert den Führer, liest, was dieser ihm empfiehlt, und glaubt an dessen Ideologie. Doch nicht alle auf dem Berghof sind überzeugte Nazis …

Aus Pierrot wird Peter

Beeindruckend schildert Boyne, wie aus einem schüchternen Jungen, dessen bester Freund ein Jude ist, ein herrischer Jugendlicher wird, der die Macht, die er bekommt, schamlos ausnutzt und andere ins Verderben reißt. Es wird sehr deutlich, wie leicht man ein Kind beeinflussen kann, wie man es für eine Ideologie gewinnen kann. Diesen Teil des Buches finde ich sehr gut gelungen.

Allerdings überzeugt mich die Figur Pierrot/Peter nicht hunderprozentig. Immer wieder fragte ich mich, ob der Autor wirklich weiß, was Kinder in einem bestimmten Alter machen, wie sie reden. Anfangs werden Pierrots Erinnerungen an seinen Vater geschildert, Dinge, die sich ein Zwei-, Drei-, Vierjähriger so niemals gemerkt hätte, weil sie viel zu kompliziert waren. Gut, das kann man als erzählerischen Kunstgriff durchgehen lassen. Angel schreibt als Vierjähriger schon Geschichten, während Pierrot ihm seine lieber erzählt, damit er sie aufschreibt, weil er das Schreiben zu mühselig findet? Ich weiß, dass Kinder in Frankreich schon im Kindergarten mit dem Schreiben beginnen – aber Geschichten mit vier? Und das zieht sich durch viele Teile des Buches. Immer wieder stutzte ich und fragte mich: „Wie alt ist er jetzt?“ Er liest mit sieben oder acht „Mein Kampf“ und Geschichtsbücher, die ihm Hitler empfiehlt. An anderen Stellen kommt Pierrot/Peter einem arg naiv vor, aber wenn man sich dann erinnert, wie alt er wirklich ist, passt das eigentlich besser. Abgesehen von der Altersdiskrepanz finde ich seinen Charakter glaubhaft, ich konnte seine Entwicklung nachvollziehen. Anfangs hat er noch Zweifel, macht sich eigene Gedanken, zum Beispiel über seine Freundschaft zu einem jüdischen Jungen. Doch mit der Zeit wird er immer mehr indoktriniert. Er bewundert Hitler, sein Wort steht bei ihm weit über dem aller anderen, beispielsweise seiner Tante.

Natürlich lernen die Leser oder Zuhörer Pierrots/Peters Charakter am besten kennen. Die anderen Bediensteten auf dem Berghof, soweit man mehr über sie erfährt, sind glaubhaft dargestellt. Besonders interessant ist natürlich Hitler. Wie wäre er mit solch einem Jungen umgegangen, der zudem auch noch keine besonders gute Herkunft hat? Das ist natürlich Fiktion, aber ich finde, gerade seine Person ist Boyne gut gelungen. Es gab keinen Moment, in dem ich dachte, dass etwas nicht passt.

Viele Andeutungen

Nachdem Pierrot auf dem Berghof eingetroffen ist, spielt sich die Handlung komplett dort oder in Berchtesgaden ab. Was im Rest des Landes los ist, erfährt der Leser kaum, das muss er wissen. Manchmal gibt es Bemerkungen oder Andeutungen. Mir haben sie ausgereicht, aber das Buch ist für Kinder ab 12 Jahren. Die wissen doch noch nicht genau über den Kriegsverlauf Bescheid, was mit Menschen passierte, die abgeholt wurden usw. Oder als der Herzog und die Herzogin von Windsor zu Besuch kommen. Zunächst ist nur die Rede von königlichen Hoheiten, erst viel später wird erwähnt, wer wirklich gekommen ist. Aber wissen Kinder, wer das war? Hitler und der Herzog sprechen über die Abdankung, aber Zwölfjährige wissen doch nicht, warum das geschah und was es für Auswirkungen hatte. In meinem Kopf entstand dann ein Bild. Die Kinder würde das wahrscheinlich gar nicht stören, da kommt eben irgendein Herzog. Aber die Bedeutung des Besuchs verstehen sie nicht.

Möglicherweise ist hier beabsichtigt, die Leser nicht mehr wissen zu lassen als Peter im jeweiligen Moment, aber ich bleibe skeptisch. Natürlich müssen die Leser nicht jedes Detail wissen, aber ich finde, es hilft, um eine Geschichte leichter zu verstehen und in diesem Fall tatsächliche historische Ereignisse besser einordnen zu können.

Manche Passagen fand ich auch etwas überzogen, vor allem die Zugfahrt nach Deutschland, wo Pierrot wirklich nur fiesen Deutschen begegnet.

Das Tempo nimmt zu

Anfangs wird die Geschichte sehr detailreich erzählt: Pierrots Kindheit in Paris, seine Freundschaft mit Angel, die Erinnerungen an seinen Vater, das Leben mit seiner Mutter, dann die Zeit im Waisenhaus und die Zugfahrt nach Deutschland. Auch auf dem Berghof wird zunächst genau erzählt, wie es ihm dort ergeht und was er alles erlebt. Dann gibt es auf einmal immer größere Sprünge. Plötzlich, wirklich überraschend, ist Peter 16. Das kam mir vor, als wäre dem Autor die Puste ausgegangen. Eigentlich erwartete ich, dass die Geschichte dann endet, aber sie ging noch weiter. Als ich am wirklichen Ende angekommen war, war ich ein wenig verblüfft und schaute erst einmal nach, ob es noch eine sechste CD gibt. Das war für meinen Geschmack etwas arg abrupt.

Die Lesung von Boris Aljinovic und Romanus Fuhrmann finde ich recht gelungen, nur die Frauenrollen kamen teilweise nicht ganz überzeugend rüber, vor allem Eva Braun. Die Auswahl der Musikstücke, die die Tracks voneinander trennen, ist sehr passend und gut gelungen.

Fazit: Eine ungewöhnliche Geschichte, die zeigt, wie formbar und leicht zu beeinflussen Kinder sind, wie leicht sie auf Ideologien hereinfallen und wie intensiv sie daran glauben, wenn ein charismatischer Mensch sie mit Lob, Ansporn, Belohnungen und Machtversprechen motiviert. Da vieles nicht direkt angesprochen, sondern nur angedeutet wird, denke ich aber, dass es noch nicht für Zwölfjährige geeignet ist, ich empfehle das Buch/Hörbuch erst ab frühestens 14 Jahren.

John Boyne: Der Junge auf dem Berg. IGEL-Records 2017, 5 CDs, 387 Minuten, Euro 18,99/24,99, ISBN 978-3-7313-1164-5.

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Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.