Albert, 16, fotografiert gerne. Am liebsten steht er auf dem Bahnhof und fotografiert Abschiede, weil er sich keinen intensiveren Augenblick vorstellen kann. Nachdem er verhaftet wurde, weil man ihn für den Komplizen von Taschendieben hält, lernt er Kati kennen. Sie scheint auf der Straße zu leben und interessiert sich für seine Bilder. Albert nimmt sie mit nach Hause, wo sie auf einem Bild ihre Schwester mit einem Mann entdeckt. Sie behauptet, das Bild sei eine Lüge. Um herauszufinden, ob sie recht hat, machen sie und Albert sich auf die Suche nach dem Mann und hängen den Ausdruck überall am Bahnhof auf. Durch die Bekanntschaft mit Kati lernt Albert die Bahnhofsszene kennen: junge Drogensüchtige, Obdachlose, Punks. Die Schule verliert für ihn an Bedeutung. Vor allem aber verliebt er sich in Kati, die anfangs sehr distanziert und geheimnisvoll ist.
Albert ist zunächst nichts weiter als ein sechzehnjähriger Junge mit einem ungewöhnlichen Hobby. Doch nachdem er znächst Kati und später die anderen Jugendlichen vom Bahnhof kennenlernt, ändert sich sein Leben radikal. Er erkennt, dass es viel krassere Momente als die Abschiede auf seinen bisherigen Fotos gibt und macht viele (verbotene) Dinge, die vorher niemals für ihn infrage gekommen werden. Er gewinnt tiefe Einblicke in das Leben von Außenseitern. Ich finde seinen Charakter sehr gut herausgearbeitet. Vor allem anfangs ist er oft sehr unsicher, stellt blöde Fragen, traut sich nicht, etwas abzulehnen, auch wenn es kriminell ist. So rutscht er immer weiter in die Szene hinein.
Kati ist einerseits sehr tough, andererseits äußerst verletzlich. Für Albert, aber auch für die anderen Jugendlichen, ist sie die geheimnisvolle Unbekannte. Niemand traut sich, genau nachzufragen, was ihr Geheimnis ist. Aber Albert verletzt aus Unwissenheit die Regeln der Szene immer wieder, erfährt so einiges, kommt Kati näher, macht aber auch manches kaputt.
Sascha ist drogenabhängig, ein ziemlich kaputter Typ, der sich seine Welt aber so aufgebaut hat, dass sie funktioniert. Weil auch er an Kati hängt, ist er bereit, Albert zu helfen, verlangt aber ziemlich heftige Gegenleistungen. Ich weiß nicht, ob dieser Typus realistisch ist, aber ich habe ihn ins Herzt geschlossen.
Alberts Vater dagegen schien mir nicht unbedingt glaubwürdig geschildert. Zwar wird genau erklärt, warum er so reagiert, wie er es tut, aber dennoch war er mir zu gelassen angesichts der Tatsache, dass sein Sohn mehrfach von der Polizei nach Hause gebracht wird, nachts verschwindet, offensichtlich die Schule schwänzt und sich tagelang am Hamburger Hauptbahnhof herumtreibt.
Alberts Geschichte ist spannend erzählt. Zwar erfährt man viel über das Leben jugendlicher Obdachloser und Drogenabhängiger, aber dies ist in eine aufregende Detektivgeschichte verpackt. Werden Albert und Kati den Mann vom Foto finden? Und warum ist das für Kati eigentlich so wichtig? Sehr eindringliche Bilder wechseln mit aufregenden Verfolgungsjagden und romantischen Momenten, ohne jemals kitschig zu werden. Die geschilderte Welt ist hart und brutal, aber sie erlaubt den Jugendlichen trotzdem Momente des Glücks. Nebenbei werden mehrere Lebensgeschichten gestrandeter Jugendlicher geschildert, die schon für sich alleine schwer zu ertragen sind, aber auch deutlich machen, wie sehr Menschen in der Lage sind, sich an eine gegebene Situation anzupassen und wie schwer es ist, irgendwann wieder den Absprung zu schaffen. Kati ist anders als die Junkies, sie nimmt keine Drogen, denn sie hat ein Ziel.
Albert erzählt die Geschichte aus seiner Sicht, in seiner Sprache. Das lässt sich sehr gut lesen, wirkt aber auch nicht anbiedernd an Jugendsprache und -stil.
Der Einband des Buches ist aus sehr dicker, steifer, grauer Pappe, nur mit einem Aufkleber darauf, als hätte sie gerade irgendwo am Bahnhof herumgelegen. Das passt sehr gut zum Thema und sieht außergewöhnlich aus. Mich hat er allerdings etwas gestört, denn ich hatte beim Lesen immerzu das Gefühl, einen Fremdkörper in der Hand zu halten. Es fühlte sich einfach nicht nach Buch an.
Die Geschichte von Albert und Kati ist sehr intensiv und berührend. Die jungen Protagonisten sind mir ans Herz gewachsenen. Ihr Leben mit all seinen Tiefen und wenigen Höhen wird sehr gut vermittelt. Es gibt Jugendlichen ab 14 Jahre Einblicke in eine ihnen (hoffentlich) fremde Welt. Besonders die Intensivität der Szenen dürfte Leser jeden Alters berühren.
Das Buch wurde völlig zurecht für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2015 nominiert.
Christoph Scheuring: echt. Magellan 2014. 256 Seiten, Euro 14,95, ISBN 978-3-7348-5001-1.
Zur Verlagsseite – Amazon – und in jeder Buchhandlung.
Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
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