Rezension. Sarah Crossan: Wer ist Edward Moon?

Wenn dein Bruder ein Mörder ist

Man versuche sich einmal vorzustellen, wie es sein muss, wenn der große Bruder ein verurteilter Mörder ist. Schrecklich! Joe war noch ein kleiner Junge, als sein großer Bruder Edward verhaftet, zu Tode verurteilt und in die Todeszelle gesteckt wurde. Er hat seitdem bis auf gelegentliche Briefe nichts mehr von ihm gehört. Doch nun, zehn Jahre später, wurde das Hinrichtungsdatum festgelegt und der Siebzehnjährige ist wild entschlossen, Ed zu besuchen und möglichst viel Zeit mit ihm zu verbringen. Einfach ist das nicht. Er hat kein Geld, weil seine Tante Mary, bei der er lebt, ihr weniges Geld nicht für Edward ausgeben möchte. Dennoch macht sich Joe auf den weiten Weg von der Ostküste nach Texas, mietet sich in einer billigen, verdreckten Absteige ein und sucht sich einen Job, um sich wenigstens ein bisschen Essen kaufen zu können.

In den folgenden Wochen schafft er es, eine Besuchserlaubnis zu bekommen und immer wieder mit Joe zu sprechen. Dabei versucht er auch herauszufinden, was damals vorgefallen ist. Vor allem eine Frage quält ihn: Hat Ed wirklich einen Polizisten umgebracht? Es gibt begründete Zweifel daran, aber wird sich die Hinrichtung noch aufhalten lassen?

Eine Reihe mit fünf Kabinen,
harte Stühle in jeder von ihnen und
schwarze Telefone.

Auf der anderen Seite dasselbe
und
dazwischen
verdammt robust aussehendes Plexiglas.

Zu Herzen gehender Bericht

Joe berichtet von den letzten zehn Wochen bis zu dem geplanten Hinrichtungsdatum. Viele Rückblicke sorgen dafür, dass die Leser*innen die steinige Geschichte der Familie kennenlernen. Joes Hartnäckigkeit nötigt einem Bewunderung ab. Seine Tante hält es für Zeitverschwendung, dass er nach Texas fährt. Seinem Leichtathletiktrainer will er nicht sagen, warum er in diesem Sommer nicht am Camp teilnehme kann, was für ihn eigentlich sehr wichtig ist. Deswegen hat der null Verständnis und ist verärgert. Joe hat lange gejobbt, um sich eine Fahrkarte kaufen zu können. Auch für die Miete reicht das Geld noch, aber dann ist nichts mehr übrig. An den meisten Tagen bekommt Joe viel zu wenig zu essen. Die meisten würden in solch einer Situation aufgegeben, vielleicht die Tante angerufen und um Geld betteln, aber nicht Joe. Er beißt die Zähne zusammen und versucht, Joe jeden Tag zu besuchen, auch wenn das bedeutet, in glühender Hitze weit laufen zu müssen, weil er sich die Busfahrkarte nicht leisten kann.

Wie hat die Todeszelle Ed verändert?

Vor dem ersten Besuch macht sich Joe viele Sorgen: Wie hat sich Ed verändert? Ist er noch wie der Junge, mit dem er das Zimmer geteilt und der auf ihn aufgepasst hat? Was haben die zehn Jahre Haft mit ihm gemacht? Verständlicherweise ist Joe sehr nervös.

Manchmal schwelgen die beiden Brüder in Erinnerungen, aber oft ist die Stimmung angespannt. Vor allem, als Joe wissen will, was damals wirklich passiert ist, reagiert Ed gereizt und sauer, doch schließlich berichtet er.

Joe denkt sehr viel nach, um sich eine Meinung zu bilden. Vor allem versteht er lange nicht, warum Ed gestanden hat, wenn er doch angeblich unschuldig ist. Doch im Laufe der Wochen spürt er, was die Wahrheit ist. Als sich ein Anwalt meldet, der den Todeskandidaten vertreten will, keimt bei Joe noch einmal Hoffnung auf.

Die Handlung ist nicht auf die Gespräche mit Joe und die Rückblicke begrenzt. Joe lernt ein Mädchen kennen und verliebt sich – seine erste Liebe in solch einer Lage! Er glaubt zwar nicht, dass die Sache eine Zukunft hat, doch lenkt sie ihn ab, gibt ihm Halt und manchmal ein Gefühl der Geborgenheit.

Ungewöhnlicher Stil

Die Kapitel sind teilweise sehr kurz, manche nur einige Sätze lang, wenige sind länger als zwei Seiten. Sie wirken, als würden wir wirklich Joes Gedanken verfolgen können, wenn er beispielsweise im Fernsehen eine Meldung über die nahende Hinrichtung seines Bruders hört. Durch die vielen Besuche bei Ed enthält der Text auch sehr viel wörtliche Rede. Dies führt dazu, dass die Leser*innen immer mehr in die Geschichte hineingezogen werden. Man spürt die Hitze, hat das Gefühlt, die gleiche stickige Luft zu atmen, empfindet Joes Angst, Sorgen, Hunger. Die Handlung kommt sehr nah an einen heran und lässt einen dann nicht mehr los. Man zittert und leidet mit Joe und wünscht sich an so vielen Stellen, dass jemand kommt, der ihm hilft. Dass Ed gerettet wird. Dass einfach alles gut wird. Aber das ist nun einmal kein Märchen, sondern schildert ein Geschehen, das in den USA immer wieder vorkommt.

Plädoyer gegen die Todesstrafe

Natürlich sind unter den Todeskandidaten etliche, bei denen ihre scheckliche Tat vollkommen klar und zweifelsfrei erwiesen ist. Doch es gibt auch viele Fälle wie der von Ed, wo das keineswegs so eindeutig ist. Die Beweislage scheint klar zu sein oder wird zumindest vor Gericht so dargestellt, doch ist das wirklich so? Tatsächlich hat es schon häufiger Fälle gegeben wo sich im Nachhinein herausgestellt hat, das der Hingerichtete doch unschuldig war. Spätestens nach dem Lesen dieses Buches sollte klar sein, wie leicht es zu Fehlurteilen kommen kann. Weil es gut für die Polizei ist, schnell einen Schuldigen präsentieren zu können. Weil der Schein trügt, weil die Beweise auf mehrfache Weise gedeutet werden können. Weil ein Armer sich keinen tollen Anwalt leisten kann oder ein Jugendlicher unter dem Druck stundenlanger Verhöre ein falsches Geständnis abgelegt hat. Weil es zu einer Verwechslung kam oder weil manche Beweismittel zum Zeitpunkt der Tat noch gar nicht analysiert werden konnte, zum Beispiel DNA. In dem Buch wird nicht über solche Dinge diskutiert, aber bei der Lektüre von Eds Geschichte und dem, was er über andere Gefangene berichtet, kommen solche Gedanken unweigerlich.

Haben Menschen das Recht, andere Menschen zu töten? Ich habe dazu eine klare Meinung, aber die Jugendlichen, die dieses Buch lesen, haben vielleicht noch nie darüber nachgedacht. Dieses Buch macht ihnen deutlich, dass es oft nicht leicht ist, zwischen gut und böse, richtig und falsch zu unterscheiden.

Wer ist Edward Moon? ist für den Deutschen Jugendliteraturpeis 2020 norminiert.

Fazit: Ein sehr atmosphärisches Buch, das unter die Haut geht. Die Leser*innen ab 14 Jahren kommen nicht umhin, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Todesstrafe gut und richtig ist. Obwohl das Buch sich locker liest, ist es doch eine anstrengende Lektüre, die einen lange nicht loslässt.

Sarah Crossan: Wer ist Edward Moon? Aus dem Englischen von Cordula Setsmann. Mixtvision 2019. 357 Seiten, Euro 17,00, ISBN 978-3-95854-140-5.

Ich werde versuchen, alle Bücher zu besprechen, die für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert sind. Auf einer Übersichtsseite sammele ich Links zu allen Rezensionen.
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Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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