Andrea Behnke: Die Verknöpften. Rezension

Andrea Behnke: Die Verknöpften. Rezension

Freunde für immer

Für immer wollen sie Freundinnen sein: Liselotte, Minna und Hildegard. Zum Zeichen dafür hat Liselotte aus Stoffresten Armbänder genäht, verschlossen mit Knöpfen, die sich die Mädchen gegenseitig zuknöpfen. Damit sind sie, ist ihre Freundschaft nun verknöpft. Mit zur Clique gehört auch noch ihr Klassenkamerad Leon, der seine Knöpfe später auf andere Weise erhält.

Doch was für die Ewigkeit gedacht war, endet früher und anders, als sie es sich hätten vorstellen können. Denn wir schreiben das Jahr 1938 und Hildegard ist im Gegensatz zu den anderen drei keine Jüdin. Ihr werden die Treffen verboten. Zunächst treffen sich die Kinder noch heimlich im Keller, doch dann wird ihren Eltern das zu gefährlich.

Ganz andere Probleme hat Leon, der neuerdings auf dem Heimweg von älteren, nichtjüdischen Jungen schickaniert und verletzt wird.

Waren die Veränderungen bis dahin schleichend, kommt schließlich eine Nacht, die alles verändert. Männer dringen in den Laden von Liselottes Eltern ein, zerstören Scheiben, Nähmaschine und Inventar und, noch schlimmer, bedrohen ihre Eltern. Die Synagoge brennt ab und die Einrichtung der Schule wird zerstört. Wenn Liselotte denkt, es könne nicht mehr noch schlimmer kommen, hat sie sich geirrt. Minna wandert mit ihrer Familie aus, Leon wird mit einem Kindertransport nach England geschickt. Ihr einziger Trost sind die Stunden mit ihrer heiß geliebten Flöte.

Liselotte kann es kaum glauben: Die Schule hat wieder geöffnet. In den letzten Wochen haben alle mitgeholfen, Eltern und Kinder. Liselotte fühlt sich wie an ihrem ersten Schultag. Als würde sie ein zweites Mal eingeschult werden. Sie ist ganz nervös. Zwei Monate lang hat sie keinen Unterricht mehr gehabt. Wahrscheinlich hat sie alles verlernt.

Die Geschichte der vier Freunde wird durch zwei Kapitel eingerahmt, die 1942 im Ghetto Riga spielen und von der Lehrerin Fräulein Hirschberg berichten, die sich nach wie vor engagiert um Kinder kümmert.

Geschichte begreifbar machen

Da die Ereignisse aus Liselottes Sicht geschildert werden, bleibt die große Politik außen vor. Liselotte bemerkt die Veränderungen, die ihr Leben direkt betreffen: Sie darf ihre Freundin nicht mehr sehen, immer weniger Kunden kommen in den Laden der Eltern, Leon hat nicht nur blaue Flecken und Schürfwunden, sondern auch keine warme Mütze. Liselotte darf nicht mehr in den nahen Park, ihr Vater versinkt nach der Pogromnacht in tiefe Teilnahmslosigkeit, der Flötenlehrer ist plötzlich weg, die Schule fällt aus, weil alles zerstört wurde usw. Warum das alles passiert, ist ihr nicht wirklich klar. Die Männer, die den Laden zerstören, tragen Armbinden mit seltsamen Kreuzen darauf, aber einordnen kann sie das nicht. Alles, was passiert, beeinflusst ihr Leben jedoch negativ, sodass sie immer wieder zu ihrer Flöte greift, um wenigstens kurz alles zu vergessen.

Es gelingt dem Buch sehr gut, deutlich zu machen, wie das Leben der jüdischen Kinder nach und nach immer enger wird. Wie die Eltern es nicht mehr schaffen, alle Sorgen und Probleme von ihren Kindern fernzuhalten, bis diese schließlich ganz konkret betroffen sind. Die Leser*innen werden sich gut in Liselotte hineinversetzen können, obwohl diese in einer anderen Zeit lebt – das Thema Freundschaft ist zeitlos.

Dadurch, dass die eigentliche Handlung nur von September 1938 bis Januar 1939 spielt, bleibt offen, wie Liselottes weiteres Schicksal verläuft. In der Rahmenhandlung wird erwähnt, dass Fräulein Hirschberg im Ghetto auch frühere Schüler getroffen hat, ob Liselotte dabei ist, erfahren wir nicht. Kinder, die schon mehr über den Holocaust wissen, können sich denken, dass Liselotte möglicherweise nicht überlebt hat. Aber auch deren Familie könnte Deutschland noch rechtzeitig verlassen oder einen anderen Weg zur Rettung gefunden haben – das finde ich ich, trotz aller Wahrscheinlichkeiten, bei dem Alter der Zielgruppe wichtig.

Wahrer Hintergrund

Die Bochumer Synagoge mit den wunderschönen Zwiebeltürmen gab es wirklich, ebenso wie die Israelitische Schule. Auch die Figuren der Lehrer basieren auf realen Personen – ihr Schicksal wird in einem Nachwort geschildert. Die Kinder sind zwar erfunden, ihre Erlebnisse haben sich aber so oder so ähnlich tausendfach im Deutschland des Jahres 1938 abgespielt.

Liselotte, Minna, Leon und Hildegard sind glaubhaft und lebendig geschildert, aber auch die erwachsenen Personen wirken lebensnah. Auf die Umwelt, die wir durch Liselottes Augen wahrnehmen, wird wenig eingegangen. Dass die Stadt, die Schule, die Läden damals ganz anders ausgesehen haben, erfahren wir nicht durch den Text, sodass sich die Leser*innen Liselottes Umwelt vielleicht moderner vorstellen. Diese Informationen werden eher durch die zarten Bilder von Inbal Leitner transportiert.

Einzig eine Stelle hat mich inhaltlich etwas irritiert: Liselotte beobachtet bei den Männern, die während der Pogromnacht in den Laden ihrer Eltern eindringen, Armbinden mit einem „seltsamen Kreuz“ darauf. Hätte ein Kind im November 1938 diese Armbinden nicht schon gekannt und schon einmal von Nationalsozialisten gehört, die für die Veränderungen und Verbote in ihrem Leben verantwortlich sind? Ich glaube, dieses Wort kommt im Buch gar nicht vor.

Die Sprache ist kindgerecht und gut verständlich mit viel wörtlicher Rede. Etwas komplizierter sind lediglich die gelegentlich vorkommenden jiddischen Begriffe, die kursiv gesetzt sind und in einem Glossar erklärt werden, aber auch ein paar andere Wörter wie Dekolleté.

Die Geschichte der verknöpften Freunde ist sicherlich keine leichte Lektüre. Ich finde sie aber sehr gut geeignet, um Kindern einen Zugang zur Shoah zu vermitteln. Sie erleben eine Zeit im Jahr 1938 mit, in der sich die Situation der Juden in Deutschlands zusehends verschlechterte bis zu den bedrohlichen Ereignissen der Programnacht und deren Folgen. Sie erfahren, dass einige sich Menschen deswegen entschlossen, das Land zu verlassen, während andere nicht klein beigeben und bleiben wollten. Durch die einrahmenden Kapitel erfahren sie von den Ghettos, hören, dass das Leben dort schwierig und traurig war, aber noch nicht mehr. Das scheint mir für die Altersgruppe angemessen.

Fazit: Ein Kinderbuch für Kinder ab 10 Jahren, das ein ernstes und wichtiges Thema – den Beginn der Shoah – gut verständlich in eine Geschichte einbindet.

Andrea Behnke: Die Verknöpften. Mit Illustrationen von Inbal Leitner. Ariella 2020. 160 Seiten, Euro 14,95; ISBN 978-3-945530-33-7.

Eine Auswahl anderer Kinderbücher von Andrea Behnke, die ich besprochen habe:
Flaschenpost in Sütterlin – zur Rezension
Frida und das Glück der kleinen Dinge – zur Rezension
__________________________________________________

WERBUNG (*)

Zur Verlagsseite – bei Amazon – bei der Autorenwelt – im Onlineshop eurer Buchhandlung – und in eurer Lieblingsbuchhandlung.

Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

(*) Nach dem Telemediengesetz sind Links auf Verlage, Shops und Affiliate-Links (hier: Amazon) als Werbung zu kennzeichnen, übrigens ganz unabhängig davon, ob das Buch ein Rezensionsexemplar ist oder selbst gekauft wurde. Ich bekomme kein Geld von den Verlagen, sie stellen mir lediglich ein Buch zur Verfügung. Das verpflichtet mich zu nichts, ich schreibe auch kritische Rezensionen oder verzichte ganz darauf ein Buch zu besprechen. Meine Meinung ist nach wie vor unabhängig. Die Links sind ein Service für euch Blogbesucher, auf den ich nicht verzichten möchte. Lediglich über den Amazon-Affiliate-Link verdiene ich etwas Geld.