Rezension: Andrea Behnke: Der Bauch voller Töne

Rezension: Andrea Behnke: Der Bauch voller Töne

Flötentöne

Enie spielt nicht nur Blockflöte wie so viele andere Kinder, sondern sie liebt ihr Instrument heiß und innig.

Wenn Enie spielt, gibt es nur noch sie und die Musik. Enie hört die Musik von innen.

Jeden Tag übt sie fleißig und voller Begeisterung. Um so schmerzlicher, dass sie dafür belächelt wird, zum Beispiel von Alina. Diese kratzt im Schulorchester mit viel weniger Talent auf ihrer Geige herum, bildet sich aber umso mehr darauf ein.

Überhaupt, das Schulorchester. Es heißt Buntes Orchester und ist für alle, die ein Instrument spielen und Lust darauf haben. Enie hat Lust darauf, mit anderenMusik zu machen. Aber könnten sie dort nicht mal etwas Anspruchsvolleres spielen?

Sie gähnt hinter vorgehaltener Hand. (…) Sie mag es, mit den anderen zusammen zu musizieren. Doch diese Frühlingslieder lassen bei ihr nicht den Mai erwachen, sondern machen sie frühjahrsmüde.

Doch dann, als Enie zum ersten Mal das E in der dritten Oktave schafft, passiert etwas. Sie braucht einen Moment, um es zu verstehen, doch tatsächlich: Sie ist in einer anderen Zeit an einem anderen Ort gelandet. In Utrecht vor 400 Jahren. Und der blinde Mann, der dort sitzt, ist wahrhaftig der Komponist Jacob van Eyck, der so viele wunderschöne Blockflöten-Stücke komponiert hat.

Jacob spielt Enie nicht nur einige Stücke vor und sie musizieren gemeinsam, sondern er zeigt ihr auch das Glockenspiel in der Kirche und erklärt ihr, welch hohes Ansehen die Blockflöte in seiner Zeit hat. Dann schafft es Enie, ihn mit in ihre Zeit zu nehmen …

Ein unterschätztes Instrument

Woher kommt es eigentlich, dass manche Instrumente wie die Geige ein solch hohes Ansehen genießen, während andere, wie die Blockflöte, so belächelt werden? Weil eine Blockflöte günstig und mal eben schnell gekauft ist? Oder vielleicht, weil die ersten Schritte leichter sind, sodass mehr Kinder Blockflöte lernen, auch wenn sie nie über „Komm lieber Mai“ hinauskommen? Enie, die ihr Instrument schon hervorragend beherrscht, leidet unter dieser Geringschätzung. Sie ist eine sehr sympathische Protagonistin, talentiert und fleißig; sie gibt damit aber nicht an. Vor allem denkt Enie überhaupt nicht daran, sich die Flöte madig machen zu lassen. Im Gegenteil, zusammen mit Jacob van Eyck denkt sie sich einen Plan aus, wie sie allen zeigen kann, was sie und ihr Instrument draufhaben.

Ebenso sympathisch ist der freundliche Komponist, der vom Lärm unserer Zeit komplett überfordert ist. Autos, Handys, Ruhe herrscht bei uns selten. Aber er hat das Mädchen, das von so merkwürdigen Dingen redet, aber sehr gut Flöte spielen kann, schnell ins Herz geschlossen.

Zeitreise mit Blockflöte

Bei ihrem Ausflug in die Vergangenheit lernt Enie einiges über das hohe Ansehen, das die Blöckflöte damals genoss. Noch interessanter fand ich, von der hohen Kunst des Glockenspiels zu erfahren. Heute sind die Glockenspiele auf Kirchtürmen oder Rathäusern alle elektronisch, aber damals wurden sie natürlich von Hand angeschlagen – gar nicht so einfach, wie Enie herausfindet.

Spannend wird es, nachdem die beiden in die Gegenwart zurückgekehrt sind. Natürlich ergeben sich einige lustige Situationen durch Jacobs Unverständnis über die Zeit und seine altmodische Frisur. Letzteres war das Einzige, was ich nicht wirklich nachvollziehen konnte. Als wäre ein Mann mit langen Haaren heute ungewöhnlich. Außerdem hat Enie bei ihrer Reise nicht nur passende Kleidung, sondern auch eine passende Frisur bekommen. Jacob van Eycks Bart wäre heute sicherlich auffälliger als seine langen Haare.

Ich habe das Buch mit viel Freude gelesen. Enie ist ein Mädchen, das für seine Musik brennt und seine Schüchternheit überwindet, um zu zeigen, welch wundervolle Klänge man einer Blockflöte entlocken kann. Durch ihre Zeitreise lernen die Leser*innen etwas über den Komponisten van Eyck, die Geschichte der Blockflöte und ganz nebenbei auch noch übers Glockenspiel.

Der Text ist gut verständlich, humorvoll und der Altersgruppe angemessen, er ist mit viel wörtlicher Rede, kurzen Sätzen und vielen Absätzen gut zu lesen. Dass die Autorin selber Flöte spielt und ihr Instrument liebt, spürt man in jedem Satz. Das Problem, dass Enie sich mit Jacob von Eyck verständigen können muss, ist geschickt gelöst: Ihr Vater ist Niederländer.

Die Zeichnungen von Mele Brink machen den Kontrast zwischen den Jahren 1780 und 2020 gut deutlich. Die Personen wirken verschmitzt, in vielen Bildern gibt es liebevolle Details zu entdecken wie Augen in einem Kirchenfenster oder eine Maus, die aus einem Gulli schaut. Text und Bilder sind braun, was gut zu der Zeitreise-Geschichte passt.

Ein unterschätztes Herzensinstrument

Jedes Kind, das seine Blockflöte wirklich liebt, sollte diese Geschichte lesen. Zu erfahren, wie sehr das Instrument, das so viel mehr kann, als viele denken, früher einmal sehr geschätzt wurde, wird ihnen guttun. Außerdem macht es Mut zu sehen, dass Enie am Ende alle von ihren musikalischen Fähigkeiten überzeugen kann.

Auch wer ein Kind kennt, das hochnäsig auf das Instrument eines anderen herabblickt, ist gut damit beraten, dieses Buch zu verschenken. Vielleicht kann es dazu beitragen, dass ein solches Kind erkennt, dass Talent und Leidenschaft wichtiger sind als der Preis eines Instruments.

Aber auch Kinder, die noch nie eine Blockflöte oder irgendein anderes Instrument in der Hand hatten, werden an dieser Geschichte ihren Spaß haben, weil die Zeitreise und die kleinen, lustigen Situationen, die sich daraus ergeben, einfach schön sind. Ein rundum gelungenes Buch!

Fazit: Ein Muss für Kinder, die Blockflöte spielen. Eine schöne Zeitreise-Geschichte, die musikalischen und unmusikalischen Kindern zwischen 8 und 10 Jahren gleichermaßen gefallen dürfte.

Andrea Behnke, Mele Brink: Den Bauch voller Töne. Edition Pastorplatz 2020, 112 Seiten, Euro 12,00, ISBN 978-3-943833.

Weitere Bücher von Andrea Behnke, die ich besprochen habe, sind z. B.: Flaschenpost in Sütterlin (zur Rezension), Frieda und das Glück der kleinen Dinge (zur Rezension)

__________________________________________________

WERBUNG (*)

Zur Verlagsseite – bei Amazon – im Onlineshop eurer Buchhandlung – und in eurer Lieblingsbuchhandlung.

Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

(*) Nach dem Telemediengesetz sind Links auf Verlage, Shops und Affiliate-Links (hier: Amazon) als Werbung zu kennzeichnen, übrigens ganz unabhängig davon, ob das Buch ein Rezensionsexemplar ist oder selbst gekauft wurde. Ich bekomme kein Geld von den Verlagen, sie stellen mir lediglich ein Buch zur Verfügung. Das verpflichtet mich zu nichts, ich schreibe auch kritische Rezensionen oder verzichte ganz darauf, ein Buch zu besprechen. Meine Meinung ist nach wie vor unabhängig. Die Links sind ein Service für euch Blogbesucher, auf den ich nicht verzichten möchte. Lediglich über den Amazon-Affiliate-Link verdiene ich etwas Geld – falls jemand etwas bestellt, nachdem er den Link benutzt hat, bekomme ich ein paar Cent.