Rezension: Steve Tasane: Junge ohne Namen

Namenlose Kinder schlagen sich durch

Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge im Lager haben keine Namen. Sie haben keine Papiere, können nicht beweisen, wie sie heißen oder wo sie herkommen. Also bekommen sie einfach Buchstaben. So kommt es, dass ein Junge namens I diese Geschichte erzählt.

Der dritte Juli ist mein Geburtstag. Ich glaube jedenfalls, dass es mein Geburtstag ist. Ich bin mir ganz sicher, dass es so ist. Ich werde zehn. Ich bin zehn. Bestimmt.

Diese Kinder haben ihre Familien auf der Flucht verloren und sind nun auf sich allein gestellt. Sie hungern, kämpfen gegen Matsch und die Wachmänner, träumen von einem Leben außerhalb des Lagers und versuchen einfach nur, jeden Tag zu überleben.

Hunger

Das Leben im Flüchtlingslager ist hart. Es gibt wenig zu essen und wenn Essen verteilt wird, schaffen es die Kinder meist nicht, sich bis zur Ausgabe durchzukämpfen. Diejenigen, die ohne erwachsene Begleitung sind, hungern also. Sie wühlen in den wenigen Abfällen der anderen, klauen die Apfelbutzen der Wachmänner, sammeln Krümel vom Boden. Wenn sie Glück haben bekommen sie etwas von einer ehrenamtlichen Helferin, die einen Bus im Lager stehen hat. I wohnt zusammen mit L und ihrem kleinen Bruder E in einer Hütte, die sie sich selbst aus Abfällen zusammengebaut haben und die ihnen ein kleines Gefühl von Sicherheit gibt.

Lebensbücher

Neben der Suche nach Essen oder anderen lebenswichtigen Dingen drehen sich Is Gedanken vor allem um das Lebensbuch. Das ist es, was man braucht, um aus dem Lager zu kommen. Das Mädchen V beispielsweise hat eine Tante, die sie in dem Lager gefunden hat, aber nicht mitnehmen durfte, weil keine von beiden einen Nachweis für die Verwandtschaft erbringen konnte. Deswegen versucht I verzweifelt, sich an alle Details seines Lebens zu erinnern, um eines Tages ein Lebensbuch zu bekommen und das Lager verlassen zu können. Kleine Kinder wie E vergessen aber sogar ihre Namen, deswegen ist es wichtig, dass ältere Kinder auf sie aufpassen.

Herzzerreißende Biografien

Ich habe selten eine so traurige Geschichte gelesen. Vermutlich ist sie vor allem deshalb so niederdrückend, weil ich beim Lesen die Bilder von Moria und anderen Flüchtlingslagern vor Augen hatte und wusste, dass vieles stimmt. Die Schilderung zielt nicht darauf ab, auf die Tränendrüse zu drücken, sondern ist eigentlich recht sachlich und abgeklärt. I schildert die Dinge, wie er sie erlebt. Er klagt und jammert nicht. Gerade das finde ich aber schwer auszuhalten.

Die Situation in dem Lager ist mehr als trostlos. Wie die Kinder von den Wachleuten behandelt werden, ist schäbig. Selten kümmert sich jemand um sie, abgesehen von der Ehrenamtlichen und ihrem Sohn. Manchmal gibt ein Erwachsener einem kleinen Kind eine Kleinigkeit zu essen. Aber Nahrung, Kleidung, alles müssen sie sich irgendwie selbst besorgen. In einer Szene nimmt ein Wachmann einem Kind sogar als Strafe etwas weg. Am Ende eskaliert die Lage, das Lager wird aufgelöst. Aber das Ganze passiert ohne Vorwarnung, sodass die Bewohner das wenige verlieren, was sie noch besaßen, auch Erinnerungsstücke.

Sehr beeindruckend fand ich die Szenen, in denen die Kinder spielen. Trotz all des Elends um sie herum spielen sie. Sie können für Augenblicke vergessen und Spaß haben.

Schmerzlich sind dagegen die Erinnerungen Is an Krieg und Flucht.

Tapfere Kinder

Wie sich Kinder doch anpassen können und mit den Umständen fertig werden. Alle diese Kinder hatten ein behütetes Leben mit ihren Familien, die älteren gingen zur Schule, Normalität eben. Dann passierte etwas, weshalb die Familien flüchten mussten. Wir erfahren nicht, wo das Lager ist, aus welchen Ländern die Kinder stammen. Ich hatte beim Lesen immer ein griechisches Lager vor Augen, aber es könnte auch irgendwo in Afrika oder Asien sein. Wo auch immer gerade ein Konflikt ist und Menschen fliehen müssen, entstehen solche Lager. Ich denke, das wurde ganz bewusst offengelassen.

Die Kinder sind noch klein, zehn Jahre und jünger. Sie müssen jeden Tag ums Überleben kämpfen, aber sie helfen sich gegenseitig. Als sie ein verlassenes Kleinkind finden, kümmern sie sich ganz selbstverständlich darum, obwohl sie eigentlich viel zu wenig haben, um es zu teilen. Ihr Herzen sind noch nicht so verhärtet, dass sie wegschauen könnten.

Das Ende ist überraschend und macht ein wenig Hoffnung. Das finde angesichts des Alters der Leser*innen überaus wichtig.

Interessante Gestaltung

Der Einband des Buches ist aus fester, grauer, kantiger Pappe. Der Inhalt beginnt schon auf dem Titel, auch der Vorsatz ist bedruckt. Dafür bleiben die letzten Seiten frei. Das Buch wirkt also ein wenig wie ein Notizbuch, das sich I gebastelt hat und in dem er jeden freien Platz nutzt, um seine Lebensgeschichte aufzuschreiben.

Die Sätze sind kurz, knapp, eindrücklich und gut verständlich. Ab und zu fand ich, dass die Wortwahl nicht die eines Zehnjährigen war, aber insgesamt war die kindliche Sicht glaubwürdig.

Junge ohne Namen ist in der Kategorie „Jugendjury“ für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

Fazit: Das beeindruckendste Buch, was ich seit langem gelesen habe. Das geschilderte Schicksal der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge schockiert und berührt. Eine harte Lektüre für Kinder ab 12 Jahren, aber durchaus zu verkraften und eine wichtige Ergänzung zu den Bildern aus Flüchtlingslagern.

Steve Tasane: Junge ohne Namen. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Fischer 2019. 144 Seiten, Euro 16,00, ISBN 978-3-7373-5643-5.

Ich werde versuchen, alle Bücher zu besprechen, die für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert sind. Auf einer Übersichtsseite sammele ich Links zu allen Rezensionen.

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Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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